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KLV-Fotoalbum Regina Heidel

Regina Heidel war von November 1941 bis August 1942 in das KLV-Lager "HJ-Heim" in Muskau, danach bis Weihnachten 1942 in das "Haus Luise" in Schreiberhau verschickt. In ihrer Muskauer Zeit legte sie das abgebildete Fotoalbum an.

Über ihre KLV-Zeit und ihre Kriegserlebnisse verfasste Regina Austermann, wie sie nach ihrer Heirat heißt, folgenden Bericht:

"Ferien- und Kinderlandverschickung 1939 - 1945

Am 6. April 1931 wurden meine Schwester Hedwig und ich, Regina Austermann, geboren. Schwester Else war schon 1924 geboren. Im Oktober 1931 starb plötzlich mein Vater, von Beruf Kirchenmaler. Kurz zuvor hatte er sich selbständig gemacht und war nicht versichert. Meine Mutter erhielt eine kleine Unterstützung von der Wohlfahrt, die sie bei späteren Einkünften zurückzuzahlen hatte. 1935 erwarb sie mit Hilfe ihres Bruders ein kleines Lebensmittelgeschäft, das sie 1941 aufgeben mußte. Sie bekam die Stelle der Posthalterin in Junkersdorf, die sie bis zu ihrem Ruhestand 1957 behielt. In den Jahren 1931 bis 1941 lebten wir in unvorstellbarer Armut. Dieses erwähne ich, damit man versteht, warum meine Mutter uns so oft weggab.

Im Frühsommer 1939 wurden meine Zwillingsschwester und ich als Ferienkinder nach Berlin-Dahlem verschickt. Dort wurden wir zum ersten Mal im Leben voneinander getrennt. Hedi kam zu einer Familie mit Kindern, ich durfte sie dort einige Male besuchen.

Meine Pflegeeltern hatten keine Kinder. Angesichts meiner kleinen dürren Gestalt nahmen sie sich vor, mein Gewicht um mindestens drei Kilo zu erhöhen. Noch heute ekelt mich Haferbrei an, man hatte ihn auch noch mit Himbeersirup angereichert. Jeden Tag war Mittagsschlaf fällig, auch wenn die Nachbarkinder, 3 und 6 Jahre alt, nach mir riefen. Ein Martyrium für mich! An die Bananen, die ich gelegentlich bekam, erinnere ich mich gern, zumal es fast ein Jahrzehnt lang keine mehr gab.

Die Stadt Berlin war ein Erlebnis! Tante Käthe und Onkel Karl zeigten mit alles Sehenswerte der Stadt: U-Bahn, den Grunewald mit See, den Zoo und das Haus des Außenministers Ribbentrop. An eine Parade kann ich mich auch erinnern, irgendwo dabei der umjubelte Führer. Onkel Karl war "Alter Kämpfer", wie er oftmals stolz erwähnte. Das glaubte ich ihm nie, da die notwendigen Attribute Rüstung, Helm und Schwert fehlten.

Kaum in Köln zurück, luden sie mich für die Sommerferien ein. Ich wurde einem Kindertransport mitgegeben, wieder mit Karte um den Hals. Alte Gepflogenheiten - Haferbrei, Mittagsschlaf - wurden wieder aufgenommen. Eines Tages fragten zwei ältere Ferienkindert einer Familie aus dem gleichen Haus, ob ich mit zum Grunewald wolle. Wir gehen sofort, frag, ob du mit darfst. Vor der Wohnungstür wurde mir klar, da wird nichts draus, erst mußt du essen, dann ins Bett ... Ohne zu überlegen, sauste ich runter und log, ja, ja, ich darf. Bedenken kamen mir erst, als wir nach dem herrlichen Tag in Wald und See zurückwanderten. Am Hause war der Teufel los, man war drauf und dran, die Polizei einzuschalten. Ich bekam einen hinten vor, wie Tante Käthe sich ausdrückte, worauf mich heftiges Heimweh ergriff.

Einige Tage später, am 3. September, der Krieg war ausgebrochen, brachten sie mich zum Bahnhof. Ausgestattet mit einem kleinen gelben Koffer, gefüllt mit neuen Sachen und einem Buch, um mir die Langeweile zu vertreiben. Das Buch blieb ungelesen. Schon in Berlin hatte es von Soldaten nur so gewimmelt, überhaupt auf allen Bahnhöfen. Auch beim Blick aus dem Zugfenster sah man allenthalben Soldaten, Militärfahrzeuge, sogar einige Flugzeuge mit Tarnbemalung.

Unser Hauseigentümer und der Nachbar hatten ihre Einberufung. Vor ihrer Abreise hoben sie im Garten einen Unterstand aus, die Decke mit ca. 20 cm Erde bedeckt, den sollten wir bei Luftangriffen aufsuchen.

Als im Frühsommer 1940 die erste Bombe in naher Umgebung fiel, hatten wir unseren "Bunker" noch nicht aufgesucht. Ich saß in diesem Momen auf einem gewissen Ort im Zwischengeschoß. Das Getöse der Detonation, die gleichzeitig eingetretene Dunkelheit, der Strom war weg - allein in dieser Zelle! Ich schrie und war kaum zu beruhigen. Bei jedem Fliegeralarm hatte ich seitdem schreckliche Angst, war das reinste Nervenbündel. Vielleicht ergriff meine Mutter deshalb die nächste Gelegenheit, uns im Sommer 1941 zur Verschickung nach Wusterhausen/Dosse in der Mark Brandenburg anzumelden. Als wir dort auf dem Marktplatz an die Pflegeeltern "ausgeteilt" wurden, klammerten meine Schwester und ich uns aneinander. Wir wollten nicht wieder getrennt werden. Meine Pflegeeltern nahmen uns beide. Sie hatten ein Uhren- und Goldwarengeschäft; - und die Hausgehilfin Elisabeth, sonst hätten sie sich diese Belastung sicherlich nicht auferlegen können.

Tante Trudi verwöhnte uns mit regelmäßigen Mahlzeiten und täglichem Nachtisch. Nie hörten wir: "Ich habe keine Zeit!"

Onkel Gustav durften wir jederzeit an seinem Reparaturtisch im Wohnzimmer aufsuchen. Mit in der Augenhöhle eingeklemmter Lupe an kaputten Uhren beschäftigt, konnte er mit uns scherzen, ein Liedchen summen oder mit aufgeblasenen Backen trompeten. Den Onkel Gustav liebten wir sehr, er war so etwas wie Vaterersatz.

Jeden Abend spazierten wir mit dem Hund an der Dosse entlang, manchmal bis zum Klempowsee. Dort waren wir auch oft zum Baden, oder man machte mit uns einen Ausflug per Dampfer. Später am Abend spielte Tante Trudi Klavier, und wir sangen. Auch die Blockflöten durften wir nach Herzenslust malträtieren.

KLV-Lager

Dieser Begriff war uns vollkommen unbekannt. Der Aufenthalt in solch einem Kinderheim wurde uns sehr schmackhaft gemacht: "Diese Heime liegen in reizvoller Landschaft, fern jeglicher Kriegseinwirkungen." Drei Monate war die übliche Verweildauer, so lange waren wir bisher nicht von zu Hause fort. Daß aus dieser Zeit schließlich 13 Monate werden sollten, hat bei der Abreise niemand wissen können.

Bei einem Ehemaligentreffen 1985 wußte jemand als Grund für die Verlängerung, daß damals keine Züge zur Verfügung gestanden hätten. Alle Züge von Ost nach West seien zum Transport verwundeter Soldaten benötigt worden.

Das HJ-Heim in Muskau erreichten wir im November 1941. 50 Kinder wurden auf zwei Schlafsäle verteilt. Ein Vierbettzimmer gab es, welches uns beiden und zwei anderen Kindern zugeteilt wurde. Darum wurden wir sehr beneidet.

Die Führung des Lagers hatten Fräulein van Treeck und Frau Krumbach, sie erteilten auch Schulunterricht.

Die Führerinnen Agathe Zander, Marianne Pülicher, Hertha Kellermann und Gisela (...?) waren unsere Betreuerinnen, hatten uns vor allem Ordnung und Disziplin beizubringen. Als erstes wurden uns die Tagespläne eröffnet, die kaum Zeit zu eigener Betätigung ließen. Am Morgen: Fahnenappell und Schulunterricht; am Nachmittag: täglich Schularbeiten, gelegentlich, aber ziemlich oft, Wehrmachtsbericht hören. Aufenthalt im Freien je nach Jahreszeit, Spaziergang, Wanderung, Sport, Spiel ...

2-3 mal wöchentlich: Putz- und Flickstunden, Strümpfe waschen und stopfen, Briefe schreiben (Briefe wurden "auf Rechtschreibfehler" kontrolliert). Dem Singen, meist bei Agathe, kam große Bedeutung zu, unterstützte man doch damit in besonderer Weise die Disziplin beim Ausgang. Unser Lager, auf der östlichen Seite der Neiße gelegen, verließen wir meist in lockerer Formation. An der Brücke wurde aufgestellt, der Größe nach, 1-2-3, 1-2-3 abgezählt, nach rechts geschwenkt und ab ging es in Dreierreihen im "Gleichschritt marsch" in die Stadt. "Die blauen Dragoner sie reiten" schmetterten wir zum Beispiel. Agathe ließ gelegentlich auf der Stelle marschierend, die Kolonne an sich vorbeiziehen. "Aufschließen" kommandierte sie und mir war anfangs ein Rätsel, warum und was überhaupt aufzuschließen sei.

Sehr oft ging es in den Fürst-Pückler-Park. Den Park, zu beiden Seiten der Neiße gelegen - das Schloß liegt auf dem westlichen Teil -, durften wir meist in gelockerter Formation durchwandern. Der Park, 5.000 Morgen groß, war Anfang des 19. Jh. entstanden. Der Fürst hatte von seinen Reisen durch fast ganz Europa, durch Teile Afrikas und Vorderasiens, Anregungen und Material mitgebracht. Fast 30 Jahre lang plante und verwirklichte er sein Lebenswerk. Eine Mappe mit Fotos und Beschreibung dieses Parks bastelten wir als Geschenk für die Eltern.

An die Winterwanderungen denke ich nicht so gerne zurück, der Winter 1941/42 war, wie es hieß, der kälteste Winter der letzten Jahrzehnte. Wie mußten da erst unsere tapferen Soldaten in Rußland frieren! Zu Weihnachten wurden welche ins Lager eingeladen, und wir würden für sie singen und spielen.

Anlaß zum Singen bot auch der allmorgendliche Fahnenappell und erst die sonntäglichen Morgenfeiern. Beim Fahnenappell umstanden wir, in Zweierreihen der Größe nach aufgestellt, den erhöht stehenden Fahnenmast. Eine der Führerinnen sagte einen markigen Spruch auf, wie z.B. "... wer leben will auf dieser Welt, der kämpfe also!" Oder "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen." Oder kurz und zutreffend "Viel Feind, viel Ehr'!" Die Fahne wurde hochgezogen, gehißt vielmehr, und dann sangen wir das Deutschlandlied, 1. Strophe natürlich und das Horst-Wessel-Lied, alles mit erhobenem Arm. Die Fahne hätte ich auch mal gerne hochgezogen, aber ich gehörte nicht zu den Auserwählten. Vielleicht fehlte es mir an Ernst, Würde oder schlicht an körperlicher Größe?

Sonntags wurde der Fahnenappell also zur Morgenfeier ausgeweitet, noch mehr Sprüche und wie der Führer auf die Bereitschaft aller zählt im Kampf gegen die ganze Welt. Gelegentlich hörten wir auch die Übertragung einer Hitlerrede. Die Daten seines Lebens, seines Aufstiegs und seiner Kämpfe kannten wir schon.

Ach, und die germanischen Götter! Kannten wir bisher nur Jesus Christus und das Gebot "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben", so war hier gleich von einem ganzen Pulk die Rede: Odin, Wodan, Thor, Frigga, Baldur, der Gott des Lichtes, und wer sich nicht alles in Walhall und Aasgard aufhielt. Dazu der böse Loko und die unheimliche Hel.

Eines Tages wünschte eines der Kinder, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Es herrschte große Verlegenheit und Ausredensuche. Ein klares Verbot wurde nicht ausgesprochen, man ging einfach über den Wunsch des Kindes hinweg.

Weihnachten 1941

Im Aufenthaltsraum stand ein riesiger Christbaum mit roten Äpfeln und Bändern. Tannenbaum hieß er natürlich, und wir sangen entsprechende Lieder. Nicht etwa "Heilige Nacht", das wir in der Kirche immer aus voller Kehle gesungen hatten, in Vorfreude darauf, was uns das Christkind wohl bringen würde. Hier sangen wir "Hohe Nacht der klaren Sterne" und "Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, du hast einen grünen Zweig". Jesu Geburt wurde überhaupt nicht erwähnt und nicht der vorangegangene Aufruf des Augustus oder die Herbergsuche von Maria und Joseph. Stattdessen kamen sie uns mit der Wiedergeburt des Lichts. Einigermaßen verwirrend, denn schließlich ist es ja nichts geworden mit der Erweckung des Lichtgottes Baldur. Den hatte doch, wenn ich mich recht erinnere, der hinterhältige Loki auf dem Gewissen. Und sämtliche germanischen Götter hatten es nicht fertiggebracht, Baldur aus dem finsteren Reich der Hel zu befreien? Heute sehe ich es so, daß man durch die germanische Mythologie unsere christliche Religion verdrängen wollte. Vielleicht war mit der Wiedergeburt des Lichtes aber auch die Wintersonnenwende gemeint?

Am Beginn des Schulunterrichtes schrieb Frl. van Treeck den Tagesbericht an die Tafel, den wir in unsere Tagebücher übertrugen. Darauf hörten wir die Eroberungsnachrichten der Wehrmacht. Auf der großen Europakarte an der Wand hatte ich Schwierigkeiten, das Großdeutsche Reich zu finden. So winzig klein! Umgeben von den großen Ländern der Feinde! Vor allem Rußland, wenn auch nur bis zum Ural sichtbar. Meine plötzlich aufgetretenen Zweifel am Sieg Deutschlands wurden langsam zerstreut. Anhand der Fähnchen, die wir täglich in die neu eroberten Gebiete steckten, sah man: Deutschland wird groß und größer. In Afrika sorgte Rommel dafür, daß wir unsere Kolonien wiederbekamen, die man uns beim schändlichen Vertrag von Versailles abgenommen hatte! Bei Kriegseintritt Amerikas hatte ich keinerlei Ahnung von Lage und Größe dieses "Landes". Noch bis vor kurzem betrachtete ich die Welt aus Rheinischem Schiefergebirge bestehend. Weiter waren wir bei Erdkunde in Köln nicht gediehen. Einen Atlas hatten wir nicht, erst recht keinen Globus, - man berücksichtige unser ärmliches Zuhause.

Während des Schulunterrichts kontrollierten die Führerinnen unsere Spinde, Spindappell war die offizielle Bezeichnung dafür. Die Unordentlichen wurden öffentlich bloßgestellt: Ihre Namen kamen ans schwarze Brett. Dieses peilte man klopfenden Herzens täglich an. War man sich der eigenen Ordnung auch sicher, sollte das nichts heißen! Die Führung setzte andere Maßstäbe. Da brauchte nur das Zipfelchen eines Wäschestücks hervorzulugen, wozu gab es schließlich den genormten Pappstreifen, der beim Falten anzulegen war?

Ein weiterer Appell: Der Läuseappell. Wurde bei jemandem eine Laus entdeckt, gab es eine sauer riechende Packung aufs Haar. Bei einem der Kinder mit hüftlangen Zöpfen wirkte die Behandlung natürlich nicht so schnell. Also fielen nach mehreren erfolglosen Packungen die Zöpfe trotz Protest und Tränen der Schere zum Opfer.

Tränen gab es auch bei Kindern, denen öfters ein nächtliches Mißgeschick passierte. Allein und frierend saßen sie eine Zeitlang auf dem Klo. Ungestraft durften wir sie mit entsprechenden Schimpfworten belegen. Später taten mir diese Kinder unendlich leid; ebenso die "Führerinnen", junge Mädchen um die 20 Jahre alt, wahrscheinlich ohne entsprechende Ausbildung. Woher hätten sie wissen sollen, daß bei Bettnässen psychische Probleme vorliegen können, ausgelöst durch Heimweh oder Vereinsamung.

Diese Gefühle sind mir weitgehend erspart geblieben, ich hatte ja meine Schwester dabei. Sie half mir auch beim Essen oft aus der Klemme: Jedes Kind hatte den Teller selbst leer zu essen. Oft gab es Kohl- oder Steckrübeneintopf, jeder bekam 2-3 Brocken Fleisch, Gebilde mit Fett, Sehnen, Adern. Ich konnte es nicht essen, meine Schwester nahm es gerne. In Druck kam ich aber durch folgende Regelung: Die Eßtische standen in Hufeisenform, und täglich mußten die Kinder einen Stuhl weiterrücken. So saß jedes Kind zwangsläufig für einige Tage der sechsköpfigen Lagerleitung gegenüber, die ihre Plätze am geschlossenen Teil des Hufeisens stets behielt. Man sah mit Schmunzeln, daß ich das Beste, die Fleischbrocken, für den Schluß aufhob. Ihnen entging jedoch, daß es mir nur mit Mühe und vollen Backentaschen gelang, das obligate "Wir danken" hervorzubringen und Richtung WC zu stürzen. Einmal bin ich mein Fleisch unter den Augen der Obrigkeit losgeworden: Ein dickes Brumminsekt war hinter den Damen aufgetaucht, alle fuhren herum, drehten sich aber in dem Moment zurück, als ich das Fleisch auf Hedis herangeschobenen Teller legen wollte. Erschreckt zog Hedi ihren Teller zu früh zurück, und der Brocken wabbelte auf dem Tisch. Seelenruhig nahm Hedi ihn auf den Löffel und verspeiste ihn.

Für Kinder, die während der Mahlzeit mal raus mußten, gab es anschließend kein Essen mehr, sie mußten im Gang warten.

Täglich hatten vier Kinder Küchendienst: Spülen, Abtrocknen, Tischdecken, -abräumen. Meist gab es Pellkartoffeln, die jedes Kind am Tisch schälte. Kartoffeln mußten wir aber für die Eintöpfe schälen, auch Gemüse putzen. Den Spinat putzten wir extra langsam. Zu gerne hörten wir, wenn Hedel, das schlesische Küchenmädchen, verzweifelt ausrief: "Macht den Spinat fertig!" Unser Arbeitstempo ließ aber auch sonst zu wünschen übrig. Frau Buchholz, so hieß, glaube ich, unsere Köchin, hatte da mehr Geduld mit uns. Nur einmal hatte ich einen richtigen Haß auf sie! Das war im August 1942, als das Gros des Lagers mitsamt der Leitung nach Köln abgereist war. Frau Buchholz hatte uns wenige Zurückgebliebene mit einem besonderen Essen erfreuen wollen. Strahlend trug sie eine große Platte auf. Mißtrauisch beäugte man Form und Größe des Bratens. Eines der Kinder sauste zum Stall unseres heißgeliebten Lagerkaninchens. Leer. "Das ist Hansi! Sie hat unseren Hansi geschlachtet!" Allen verschlug es den Appetit. Selbst meine fleischliebende Schwester konnte davon nichts essen.

Im Frühjahr und Sommer 1942 hatten wir auch die weitere Umgebung des Lagers kennengelernt. Wir wanderten durch Wald und Heide, über sanfte Hügel. Wir sammelten Blätter, trockneten sie und bastelten ein kleines Sammelalbum zu Muttertag. In großen Mengen pfückten wir Huflattich und Schachtelhalm für ein pharmazeutisches Werk. In den Sommerferien suchten wir Waldbeeren. Jedes Kind hatte einen Becher voll Beeren abzuliefern. Es blieb also Zeit, durch den Wald zu streifen, Beeren zu essen, Geländespiele zu machen. Den Sportplatz gleich hinter dem Lager benutzten wir oft. Ballspiele, Völker- und Treibball machen mir besonderen Spaß, weniger Laufen, Hoch- und Weitsprung. Wir trainierten, das Leistungsabzeichen zu erwerben, ein silbernes JM auf rotem Grund. Um jeden Punkt wurde schwer gerungen, soviel ich weiß, hat jedes Kind die begehrte Nadel bekommen.

Die Neiße hinter dem Sportplatz hatte eine flache Ausbuchtung, in der wir an heißen Tagen planschten, aber Frl. van Treeck war der Meinung, daß jedes Kind schwimmen lernen müsse und gab selbst den Unterricht.

Im August 1942 wurde das Lager aufgelöst. Mitten in die Reisevorbereitungen machte Donar uns ein Abschiedsgeschenk: Er schleuderte einen Blitz in die große alte Eiche am Sportplatz. Sie brannte und glühte die ganze Nacht hindurch. Zu etwa zehn Kindern fuhren wir einige Tage später nach Schreiberhau im Riesengebirge. Hier gefiel es uns sehr, es herrschte eine geradezu liebevolle Atmosphäre. Die Leiterin, Frau Trapp, war eine freundliche, fröhliche Frau. Vielleicht hatte ich sie ihres Namens wegen gleich ins Herz geschlossen, die Pflegeeltern in Wusterhausen hießen ja auch Trapp. Die beiden Führerinnen waren Margarete und Dusie. Dusie trug natürlich einen richtigen Namen, aber da man sich nicht auf Du oder Sie einigen konnte, wurde sie Dusie genannt. Soviel Vertraulichkeit hätten wir uns bei Agathe, Marianne, Hertha, selbst bei der etwas sanfteren Gisela, niemals herausgenommen. Dusie war bei Bedarf auch Krankenschwester, und es gab ein separates Krankenzimmer. Dieses bewohnte ich eine Zeitlang allein mit Gelbsucht. Später kamen Hedi und ein anderes Kind dazu. Während der Genesungszeit brachte man uns, sogar während des Schulunterrichts, eine Zwischenmahlzeit. Zuwendungen, die wir von Muskau her nicht kannten.

Unser Heim, das Haus Luise, lag auf einer Anhöhe abseits des Ortes. Die um die 30 Kinder waren alle in Vierbettzimmern untergebracht.

Auf Wanderungen zu den hohen Gipfeln, Reifträger und Schneekoppe, durften nur die größeren Kinder mit. Wir kleineren mußten uns mit Ausflügen in das nahe Isergebirge begnügen. Außer mit Geländespielen konnten wir uns die Zeit mit Beeren pflücken vertreiben, riesengroße Himbeeren gab es dort. Auf einer Wanderung in die Nachbarorte zeigte man uns das Wohnhaus Gerhart Hauptmanns in Agnetendorf. Ganz plötzlich gab es Schnee, einmal waren wir sogar eingeschneit. Es gab Schlitten im Haus, und im Ort konnten wir Skier ausleihen.

Kurz vor Weihnachten 1942 reisten wir nach Hause. Unsere Mutter war glücklich, uns wiederzuhaben. Unsere große Schwester war inzwischen zum RAD(wJ), dem Reichsarbeitsdienst, eingezogen worden. Der Antrag meiner Mutter auf Freistellung der Tochter war abgewiesen worden: Darüber war sie sehr erbittert, denn die etwa gleichaltrigen Töchter des Ortsgruppenleiters erfreuten sich ihrer Freiheit. Man sah sie oft in Tennis- oder Reitkleidung in Richtung Stadion radeln.

Köln hatte inzwischen schwere Zerstörungen durch Bombenangriffe erlitten. Vor dieser Art Nachrichten hatte man uns im Lager erfolgreich abgeschirmt. Unser Bunker im Garten hatte sich als zu unsicher erwiesen. Man hatte unseren Keller mit schweren Holzbalken stabilisiert. Fast jede Nacht suchten wir ihn auf. Einen der nur lose zugemauerten Durchbrüche schlugen meine Mutter und eine Nachbarin zum Keller der alten Nachbarn auf. Sie krochen verängstigt in unseren Keller, während die Nachbarschaft versuchte, ihr brennendes Haus zu löschen. Auch wir reihten uns in die Eimerkette ein. Auf der höchsten Sprosse der Leiter stand ein Nachbar, Halbjude wie jeder wußte, und goß Eimer für Eimer in die Flammen.

Im Sommer luden uns die Wusterhausener Pflegeeltern wieder ein. Die Nachbarfamilie hatte sich vergrößert, sie hatte ausgebombte Verwandte aus Hamburg aufgenommen. Fast täglich wanderten wir Kinder, nun auch oft ohne erwachsene Begleitung, zum Baden an den Klempowsee. Am See wohnten Omi und Opa. Sie waren weitläufig mit Trapps verwandt, hatten einen kaum aussprechbaren, polnisch klingenden Namen. Sie waren im 1. Weltkrieg aus Ostpreußen geflohen. Jetzt dachte noch niemand daran, daß nur kurze Zeit später unzählige Menschen das gleiche Schicksal erleiden sollten. In Omis und Opas Garten also stärkten wir uns mit Johannisbeeren aller Farben, tranken Wasser mit Sirup.

Ein Abenteuer war es, auf dem großen Dachboden der Nachbarn zu stöbern. Außer dem üblichen Gerümpel gab es eine brütende Henne, die mit lautem Gegacker ihr Nest verließ, wenn wir nahten. Eines Tages sah ich von einer Dachluke aus Onkel Gustav im Garten sitzen, seinen Mittagsschlaf halten. Ich wollte ihm winken. Als ich die Luke öffnete, löste sich ein Dachziegel und schlug zu meinen Entsetzen neben Onkel Gustav auf. Tante Trudis Vorwurf "Du hättest fast den Onkel Gustav getötet" traf mich sehr hart. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Köln gefahren. Bald verzieh man mir aber, und die Ferien gingen dann viel zu schnell zu Ende.

In Köln hatten die Fliegerangriffe an Intensität und Häufigkeit zugenommen. Ein Kind aus unserer Klasse war umgekommen. Fast jede Nacht saßen wir im Keller und oft auch tagsüber. Bei Vormittagsalarmen zogen wir mit den Schulklassen in den Bunker. Unsere Fensterscheiben waren schon mehrmals zu Bruch gegangen, und es war nicht einfach, an neue zu kommen. Daß Leute allein schon durch den Druck einer Luftmine umkamen, stärkte nicht gerade das Vertrauen in den eigenen Kellerbunker. Also rannten wir lieber zum neuen Betonbunker einige Straßen weiter.

Mutter trug immer den kleinen, gelben Koffer (aus Berlin) mit Wertsachen und Geld der Poststelle. Den gab sie nicht aus der Hand. Nie werde ich die Angst vergessen, wenn wir beim Geheul der Sirenen, dem grellen Abwehrsfeuer der Flak, ganz in unserer Nähe stationiert, zum Bunker rannten. Über uns die "Christbäume", so nannte man die Markierungssignale der feindlichen Flugzeuge für die nachfolgenden Bomber. "Lauft doch schon vor", keuchte meine Mutter, sie war herzkrank, bekam keine Luft, konnte nicht laufen. Aber natürlich blieben wir in ihrer Nähe, vor Angst schlotternd.

Das Attentat auf den Führer entrüstete mich zutiefst. Daran mag man erkennen, daß man uns im KLV-Lager doch zu treuen Hitleranhängern gemacht hatte. Damals konnte ich nicht wissen, daß Hitler an unserem Elend und dem Leid fast der ganzen Welt die Schuld trug. Meine Mutter hielt sich mit ihren Kommentaren zum Attentat auffallend zurück. In Wusterhausen nahmen wir die gleiche Zurückhaltung wahr. Oft sagte Tante Trudi, wenn Onkel Gustav über die Nazibonzen im Allgemeinen und im Besonderen über Hitler schimpfte: "Still doch, Gustav, die Mädchen ...!" Erst später habe ich verstanden, daß es eine Warnung vor uns, den KLV-Kindern, war. Es kam in der Tat damals vor, daß Kinder sogar ihre eigenen Eltern, natürlich ungewollt, in "Teufels Küche" brachten. Sie brauchten nur die Einstellung ihrer Angehörigen an der richtigen Stelle duchblicken zu lassen, und die kamen dann "dahin, wo sie hingehörten". In Köln war dieser Ort das EL-DE-Haus.

Der Gesundheitszustand meiner Mutter verschlechterte sich rapide. Einige Male schon hatten wir nachts den Arzt holen müssen. Er verbot ihr, der Herzanfälle wegen, zu arbeiten, aber es gab keinen Ersatz für die Arbeit am Postschalter. Erst im Herbst 1944 wurde sie in ein Erholungsheim der Post nach Thüringen geschickt. Uns beide nahm sie einfach mit und konnte uns in ein Heim für herzkranke Mädchen unterbringen. Sie selbst zog in das Heim auf dem Kleinen Inselsberg. Oft wanderten wir dort hinauf und stellten fest, daß Mutter sich zusehends erholte. Wir waren die jüngsten Insassen des Heims, durften aber mit anderen in kleinen Gruppen in den Ort. Bis eines Tages unsere Heimleiterin zur Ortsgruppenleitung bestellt wurde. Eines der Mädchen hatte sich bei einer Parteiversammlung auf dem Markt über einen "braunen Fettkloß" lustig gemacht. Nachdem Frl. Schmidt versprochen hatte, die Schuldige rigoros zu bestrafen, sah man von einer Festnahme ab. Wir erlebten noch eine kurze, unbeschwerte Zeit in Brotterode. Wir sammelten Bucheckern als Ersatz für Mandeln auf dem Streuselkuchen.

Anfang des Winters konnten wir Rodeln und Skilaufen. Auch hier sangen wir, aber Lieder ganz anderer Art, z.B. "Einsam geh´ ich durch die Gassen, verlassen bin ich ...". Dieses und andere sentimentale Lieder paßten genau zur Gemütslage der kranken Mädchen; - allerdings auch ein wenig zu unserer eigenen. Als die Erholungszeit meiner Mutter um war, wollte sie uns nicht mit in das gefährliche Köln nehmen. Sie hatte mit "Wusterhausen" ausgemacht, daß wir dorthin fahren konnten, wenn das Heim aufgelöst würde. Das war dann Mitte Dezember 1944 der Fall.

In Wusterhausen gingen wir nun zum ersten Mal zum Schulunterricht, aber nur für einige Wochen. Die Ostfront rückte näher. Anfang, Mitte Januar 1945 zogen endlose Flüchtlingstrecks durch den Ort. Auf Pferdefuhrwerken und zu Fuß zogen sie hungernd und frierend über die Landstraßen. Nachts wurden sie in Schulen, Turnhallen usw. untergebracht.

Wir Kinder wurden zu Hilfsarbeiten eingespannt. Wir holten Stroh bei den Bauern, fuhren es auf Schlitten zur Schule, wo es in Säcke kam, die als Matratze dienten. Auch bei der Essensausgabe halfen wir gelegentlich. Die Flüchtlinge berichteten Grauenhaftes von Erschießungen, Morden, Vergewaltigungen. Die Pflegeeltern konnten und wollten uns nun nicht mehr dabehalten.

Am 14. Februar brachte Onkel Gustav uns nach Berlin. Am Bahnhof herrschte ein unsägliches Chaos. Fahrplanmäßige Züge gab es nicht mehr, und alles wollte in den Westen. Fliegeralarm, Bunker, Entwarnung und endlich fuhr ein Zug ein, von dem es hieß, er fahre nach Köln! Onkel Gustav weinte beim Abschied und schob uns ins Gedränge einer Zugtüre. Wir sahen ihn nie wieder, auch Tante Trudi nicht. Sie gehörten ja später zur DDR.

Der Zug wurde einige Male umgeleitet, Dresden brannte. Viele Male blieben wir auf der Strecke stehen, meist in Wäldern. Und während feindliche Flugzeuge über uns kreisten, liefen wir in den Wald, Deckung suchend. Plötzlich aber griffen sie an, als der Zug in einer kahlen Schlucht stehengeblieben war, und wir ausgestiegen waren. Mit schrillem Maschinengewehrfeuer stießen sie auf uns herab. Schreiend, wie gelähmt, blieben meine Schwester und ich stehen. Ein Soldat riß mich mit sich, drückte mich bei den Geschoßsalven zu Boden, warf sich schützend über mich. Wir rannten zum Ende des Zuges hin. Ich sah meine Schwester nicht mehr. Mein Beschützer hatte nicht gesehen, daß wir zu zweit waren. Bei jedem neuen Angriff schützte er mich mit seinem Körper. Als die Flugzeuge endlich abgeflogen waren, klopfte er mir beruhigend auf die Schulter und ging. Schließlich fand ich in dem unsäglichen Gewirr meine Schwester, unverletzt!

Obwohl ich dieses Erlebnis nie vergessen habe, erinnerte ich mich 1984 besonders intensiv daran. Mein Mann und ich waren 1982-1990 immer für einige Wochen an der jugoslawischen Adria in Ferien. Dort hatten wir einen Maler kennengelernt, kauften bei ihm, freundeten uns an. Später gab er mir Unterricht, ich hatte früher auch gemalt. Als wir gelegentlich über unsere Geburtsdaten sprachen, meiner ist am 6. April, rief er aus: "Katastrophe! Welch ein schrecklicher Tag!" Wir lachten, dann erfuhren wir, daß er nicht meine Geburt als Katastrophe bezeichnet hatte, sondern den Angriff der deutschen Luftwaffe auf Belgrad am 6.4.1941. Sein Elternhaus wurde dabei zerstört, seine Mutter verschüttet, sie wurde nie wieder gesund. Er selbst, Offizier der serbischen königstreuen Armee, geriet in deutsche Gefangenschaft in ein Lager nach Pommern. Als die Russen näherkamen, trieb man die Gefangenen nach Westen. Auf den Landstraßen waren die endlosen Flüchtlingstrecks, also mußten die Gefangenen über Äcker, durch Straßengräben. Vollkommen entkräftet, hungernd und frierend fielen sie nachts zu Boden. Immer in Angst, daß sie erschossen würden, bevor die Russen sie befreiten, kamen sie schließlich nach Westfalen.

Die schrecklichen Erlebnisse, die wir, ohne damals voneinander zu wissen, in fast gleicher Umgebung und gleicher Zeit erfuhren, verarbeitete ich in einem meiner Kriegsbilder. Mein Mann, den ich derzeit noch nicht kannte, war 1942 als 18jähriger trotz chronischer Bronchitis seit Kindertagen eingezogen worden. Er kam in ein Materialbeschaffungs-Bataillon in Norddeutschland. Dort demontierte man Kupferkabel der Überlandleitungen, die zur Rüstungs- und Munitionsherstellung gebraucht wurden, ersetzte sie dann durch "wertloses" Material. In englisch-amerikanische Gefangenschaft geraten, entließ man ihn am 15. August 1945.

Zurück zum 15. Februar 1945: Nach dem Tieffliegerangriff schleppten wir uns zum nächsten Bahnhof, kamen irgendwie nach Köln. Nacht, Fliegeralarm, - wir rannten den fliehenden Menschen nach und gerieten in den Dombunker. Am Morgen wanderten wir durch die zerstörte Stadt, - über Berg und Tal der mit Trümmern bedeckten Straßen. Später fanden wir eine funktionierende Straßenbahn.

Meine Mutti, am Postschalter diensttuend, empfing uns überglücklich. Auch unsere große Schwester war wieder zurück. Sie hatte nach der RAD-Zeit in Schlesien Dienst als Nachrichtenhelferin auf dem Flugplatz in Stade gemacht.

Die Fliegerangriffe gingen nun fast pausenlos ineinander über. Das Dröhnen der Bomber und das Abwehrfeuer der Flak ertönten gleichzeitig mit dem Warngeheul der Sirenen. Der Westen Kölns lag zudem unter Artilleriebeschuß. Anfang März wurde die Poststelle wegen der näherrückenden Front geschlossen, und wir verließen die Stadt. Alle Kölner Brücken waren zerstört, und wir erwischten noch eine der letzten Fähren in Weiß.

In einem kleinen Oberbergischen Dorf im Ruhrkessel erlebten wir den Einmarsch der Amerikaner. Ein alter Mann, ein Bekannter aus Köln, ging ihnen entgegen, ein Bettlaken als weiße Fahne hocherhoben. Ich konnte es nicht fassen, alle ließen ihn gehen, den Verräter!

Und ohne Kampf für Führer, Volk und Waterland, ohne auch nur einen Blutstropfen, geschweige denn den letzten, verloren zu haben, sahen wir den sich nähernden feindlichen Soldaten entgegen."

 

Frau Austermann stellte dem NS-Dokumentationszentrum Bericht, Fotos und ein KLV-Tagebuch im Rahmen eines Projekts zur KLV im Jahr 2000 zur Verfügung.