Marianne Groß wird am 18.6.1927 in Mönchengladbach geboren. Sie wächst in einer katholischen Familie auf und ist, ebenso wie ihre sechs Geschwister, früh in der katholischen Jugendbewegung engagiert.
Ihr Vater Nikolaus Groß ist als Chefredakteur des katholischen „Westdeutschen Arbeiterzeitung“ und Verbandssekretär der „Katholischen Arbeiterbewegung“ gegen die Nationalsozialisten eingestellt und gerät des Öfteren mit ihnen in Konflikt. Im Laufe des Krieges plant er mit anderen Widerständlern konkrete Umsturzaktionen.
Nachdem Marianne Groß im Sommer 1944 aus der „Erweiterten Kinderlandverschickung“ nach Köln zurückkehrt, muss sie erleben, wie ihr Vater von der Gestapo verhaftet wird. Nach Haft im Konzentrationslager Ravensbrück und in Berlin Tegel wird er vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und im Januar 1945 hingerichtet. Marianne befindet sich zu dieser Zeit zu ihrem Schutz bei ihren Großeltern. Bereits kurz nach dem Krieg kehrt sie jedoch in ihre Heimatstadt zurück.
Über Ihre KLV-Zeit teilte Frau Reichartz, wie sie nach ihrer Heirat hieß, dem NS-Dokumentationszentrum 1999 Folgendes mit:
„Im weiteren Verlauf des Krieges wurden die Luftangriffe bei Tag und später auch bei Nacht heftiger und zahlreicher. Wir kamen müde in die Schule, weil wir nachts, oft mehrmals, den Luftschutzkeller aufsuchten. Selbst auf dem Schulweg trieb uns Sirenengeheul in den erstbesten Luftschutzkeller, das war meistens in der Domstraße. Bei Fliegeralarm während der Schulstunden ging der Unterricht im Keller weiter. Jede Klasse hatte ihre Ecke.
Plötzlich kam auf, dass unsere ganze Schule nach Bansin / Usedom verlegt werde. Alle Schülerinnen, Lehrerinnen, Direktor und Hausmeister mussten mit. Wer hier blieb, hatte in einem kriegswichtigen Betrieb zu arbeiten. Sonst gab es keine Lebensmittelkarten. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits war da der Abschied von meinen Eltern, von der Agnes-Pfarre, von Köln. Doch den Ausschlag gab das Versprechen, dass wir auf Usedom das Kriegsabitur machen könnten. Ich blieb dann auch in der folgenden Zeit nie ganz eindeutig, was aus meinen Briefen aus Bansin, die sehr stark unterschiedlichste Gefühle spiegeln, hervorgeht.
Obgleich wir unter dem Titel „Schulverlegung“ aufgebrochen waren, vereinnahmte uns in Bansin die Kinder-Land-Verschickung, die der Partei unterstand. Es gab für mich einschneidende Maßnahmen. Ich bekam zum ersten Mal in meinem Leben eine BDM-Uniform verpasst, obgleich ich nie Mitglied war und die Uniform nicht getragen habe. Durch meinen moralischen Zwiespalt, von dem ich meine Eltern genau unterrichtete, entstand ein intensiver und vertrauensvoller Briefverkehr zwischen meinen Eltern und mir. Mein Vater gab mir das Gefühl, dass er mich bei Überforderung nie im Stich lassen würde, aber dennoch auch Eigenleistung von mir erwartete.
Rückblickend ist mir klar, dass unsere Lehrerinnen in der Mehrzahl treu zu uns standen und auch unter der Willkür der KLV litten. Äußerlich lebten wir Trümmerkinder übrigens in tiefstem Frieden. Unser Haus, das beschlagnahmte „Seeschloss“, bot alle Annehmlichkeiten. Es gab keine Luftangriffe. Wir litten keinen Hunger. Dennoch: Die Angst vor der immer näherkommenden Ostfront und der angekündigte Reichsarbeitsdienst, dem ich mich entziehen wollte, trieb mich auf Umwegen zurück nach Köln.
Am 14. August landete ich nach dreitägiger Rückfahrt in Köln. Am 15. August wurde in meinem Beisein mein Vater von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet und verschleppt. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Am 23. Januar 1945 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Bis Kriegsende arbeitete ich als Helferin in der Luftwaffen-Lazarett-Apotheke in Essen-Kupferdreh. Dem Arbeitsdienst wollte ich entfliehen und war bei der Wehrmacht gelandet.“
Außerdem stellte Marianne Reichartz dem NS-Dokumentationszentrum zu Reproduktionszwecken Briefe aus der KLV-Zeit zur Verfügung, die sie mit ihrer Familie und insbesondere ihrem Vater wechselte. Darunter finden sich auch einige Briefe des Vaters an den 1931 geborenen Sohn Alexander, der zur gleichen Zeit mit der KLV nach Baienfurth verschickt war. Außerdem haben sich zwei "Rundbriefe" von Nikolaus Groß an die verstreut untergebrachten Kinder erhalten.
Damals wurden zeittypisch lediglich einfache schwarz-weiße Arbeitskopien angefertigt. Leider waren die Briefe später nicht mehr im Original zugänglich, um sie zu scannen. Daher können hier neben der Transkription lediglich die – teilweise mit Markierungen versehenen - Arbeitskopien präsentiert werden. Sie werden im NS-Dokumentationszentrum im Bestand „KLV“ aufbewahrt.