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KLV-Tagebuch Renate Aring (1945)

Die im November 1927 geborene Renate Mader stellte dem NS-Dokumentationszentrum 1999 das Tagebuch zur Verfügung, das sie während ihrer KLV-Zeit mit der Oberschule für Mädchen in Rheydt in der ersten Hälfte des Jahres 1945 führte. Über ihre damaligen Erlebnisse berichtete Frau Aring, wie sie nach ihrer Heirat heißt:

Ich nahm vom 19. Januar - 8. Mai 1945 freiwillig an der Kinderlandverschickung teil.

Ich erinnere mich an geregelten Schulunterricht, an schöne Wanderungen im Erzgebirge, an die Möglichkeit zur Teilnahme am gottesdienstlichen Leben der evangelischen Gemeinde Jähstadt, aber auch an viele Spannungen und die mager werdende Verpflegung.

Der briefliche Kontakt zu Eltern und Verwandten war lebenswichtig. Die Post wurde nicht kontrolliert.

Das Verhältnis zwischen Lagerleitung und Lehrern war zeitweise sehr gespannt. Die Leitung, eine D.R.K.-Schwester und eine B.D.M.-Führerin, arbeitete sehr bestimmend, die Mehrzahl der Schülerinnen hielt zu den Lehrern.

Während der KLV-Zeit bedrängten uns zunehmend die Geräusche der näherrückenden Front, die Nächte im Keller, besonders während des Angriffs auf Dresden, und die Spannungen mit denen, die immer noch an Hitler glaubten und das Parteiabzeichen trugen. - Schlimm war das Ausbleiben der Post!

Mitte Juni 1945 kehrte unsere 7. Klasse nach mehrwöchiger Wanderschaft nach Rheydt zurück. Unsere Klassenlehrerin hat uns begleitet. Die Mädchen von Klasse 1 - 6 kamen erst im Herbst 1945 zurück.

 

Frau Aring stellte ihr KLV-Tagebuch dem NS-Dokumentationszentrum im Jahr 1999 kurzzeitig zur Verfügung. Damals bestand leider noch nicht die Möglichkeit, auf schnelle und finanzierbare Art und Weise gute Reproduktionen anzufertigen. Daher liegen hier lediglich herkömmliche schwarz-weiß-Kopien des Lagertagebuchs vor. Die Reproduktionen werden im NS-Dokumentationzentrum der Stadt Köln im Bestand "KLV" aufbewahrt.

Erinnerungen an das
Kriegsende und die
abenteuerliche Fahrt
durch Deutschland im
Mai /Juli 1945

Dieses Tagebuch schrieb die Schülerin Renate Aring, geb.: 5.11.1927 in Rheydt.

Familienstand 1945:
Vater: Aring Karl, Pastor verstorben am 27.12.44 durch Bomben in Rheydt
Mutter: Gertrud Aring, z.Zt. wohnhaft in ihrer Heimat Uchte/Krs. Nienburg
Geschwister: Dorothea und Hermann, auch in Uchte. Paul-Gerhard - Soldat

 

In Jöhstadt (Krs. Annaberg i. Erzgebirge)

14.4.45

(Alles spitzt sich immermehr zu, der Feind rückt immer weiter vor. Er steht schon hinter Magdeburg, bei Leipzig und Crimitschau. Das löst hier die dollste Spannung aus.) Gestern fing es richtig an, obwohl man es schon lange ahnte. Else Pfeifers Mutter wollte gestern mit Frl. Oberthür nach Thüringen fahren, um Sachen zu holen. Beide kamen zurück, mußten auf halbem Wege umkehren. Sie erzählten die tollsten Sachen. Aber heute ging´s erst richtig los. (Man hört dauernd Schießen in der Ferne. Front oder Flak??) Liesel (Lagerführerin vom B.D.M.) brachte Lene Major Sachen ins Krankenhaus nach Annaberg im Falle eines Falles, und sie erzählte, man sähe dort nur Militär, alle Geschäfte wären ausverkauft, alles sei in Aufregung. Aber mal erst hier im Lager!! (Gestern abend hat Herr Scharschmidt (Herbergsvater) alle Akten und Bücher, Bilder und Abzeichen verbrannt, die an die Partei erinnerten. So machten es auch Polizei und H.J., ebenso wir selbst, alle Abzeichen, Ausweise, Hitlerbilder, etc. - weg damit. Gott sei Dank, daß dieser Verein endlich ein Ende zu nehmen scheint! - Wir müssen alle Alarmgepäck fertigmachen, von allem 2 Garnituren etc. strengste Vorschrift. Unsere Spinde sind alle so leer geworden. Vielleicht muß man sich mal vor Artilleriebeschuß in Sicherheit bringen. Wer hätte gedacht, daß es mal soweit kommen würde!! Wer hätte denn vor 2 Wochen nur gewagt, ein Hitlerbild anzutasten!!) Aber in allem Tumult fanden wir zu ein paar Mädels noch eine stille, wunderschöne Stunde. Wir waren zum 1. Mal bei Pastor Laser zum Jugendkreis, es war fast genau wie bei Vater im Verein, und wir kamen alle so ruhig und befriedigt zurück. Hoffentlich können wir das noch öfter mitmachen.

Am Mittwoch wir ich zum 1. Mal seit Sept. 1944 im Kino. "Der gebieterische Ruf", ein ziemlich ernster Film. Die anderen sind heute zum letzten Mal hin, dort soll nämlich ein Lazarett hinkommen.

Ich habe ausgerechnet in dieser aufgeregten Woche

das "Glück" Mädel vom Dienst zu sein. Es läßt mich aber ziemlich kalt. - So nun habe ich mir mal alles vom Herzen geschrieben. An Mutter kann ich ja nicht mehr schreiben, auch an sonst keinen. Da wird mein kleines Notizbuch zu klein für alles und ich habe dieses Heft angefangen. Ob ich noch oft was darin schreiben kann???

Sonntag, den 15.4.1945

Das war mal wieder ein aufregender Tag! Der Feind steht vor Chemnitz, also knapp 50 km von hier. Wir hörten den ganzen Tag Schießen. Jetzt, wo der Abend so still über dem Land liegt, hört man es lauter und deutlicher. Heute morgen durften wir wegen nächtlichem Alarm bis 8 Uhr schlafen. Das war herrlich. Aber sowie wir aufstanden, standen die Schrecken des Tages wieder deutlich da. Jöhstadt voll Soldaten, die über Nacht gekommen sind. Im Gottesdienst um 9 Uhr fanden wir eine stille, segensreiche Stunde, in der wir mal alles um uns vergessen konnten. Und uns neue Kraft holten. Trotz allem übten wir fleißig für die morgen drohende Mathematikarbeit. Ich hab´ es aber drangegeben, weil ich mich einfach nicht zu konzentriertem Arbeiten zwingen kann. Ich höre immer auf das Schießen. Die Fliegertätigkeit ist eigentlich ziemlich gering. Es ist zwar oft Alarm, aber nicht viel los. Heute nachmittag machten wir einen schönen Weg mit Bruni, unserer Hauptlagermädelführerin. Dann hörten wir den schrecklichen Bericht vom O.K.W., übten, ich spielte ein bißchen Klavier, las in meinem "Jürg Jenatsch". Heute abend hatten wir mit Bruni und Liesel eine ernste, kurze Abendrunde, wobei wir immer Schießen hörten. Ach, es ist doch furchtbar, daß unser liebes Deutschland nun ganz vom Feind heimgesucht wird. Meine ganze Vaterlandsliebe ist eigentlich im Lauf der Zeit durch das schreckliche Parteiwesen ziemlich zurückhaltend geworden. Was mag aus der Partei werden? Wir müssen weiter alles vernichten, was daran erinnert. Die Kleinen vernichten eifrig alle Briefe, streichen harmlose Stellen durch. Das R.A.D. - Lager ist aufgelöst. Sie werden dem Roten Kreuz unterstellt, alle Zeichen der K.L.V. werden entfernt. Möge Gott uns doch schützen trotz allem, was uns diese Woche jetzt bringen mag.

 

Montag, den 16.4.1945

Das war zwar ein weniger aufregender als anstrengender Tag. Wir mußten aus allen Schulbüchern die Seiten reißen, auf denen was von Hitler, Partei, etc. stand. Das war keine geringe Arbeit, mußten doch die Bücher erst alle vom H.J.-Heim geholt werden und nachher wieder raufgeschleppt werden. Dazu habe ich 2 x umsonst mit Christa Geskes für Brot Schlange gestanden. Alles kauft wie doll ein.

Die Fliegertätigkeit war heute sehr lebhaft, oft Bomben und Beschuß in der Ferne. Lene Major kam heute aus dem Krankenhaus Annaberg. Ich habe mir die Haare gewaschen, die bei dem herrlichen Sonnenschein wunderbar trockneten. Mit Frl. Weyer haben wir heute abend schön im kleinen Kreis gesungen.

Heute morgen liefen wir schon wie doll nach Brot, ergatterten jedoch stattdessen einen Topf voll Gemüsesalat, denen wir uns zu dreien teilten.

Im Osten ist der Russe zwischen Neiße- und Odermündung zum Großangriff angetreten. Das fehlte noch! Gott schütze unser Deutschland. Am Harz, an der Elbe, im bergischen Land schwere Kämpfe, Lüdenscheid verloren, bei Chemnitz ziemliche Kämpfe.

Nun noch einen selbstverfaßten Tischspruch, den ich heute als Mädel vom Dienst zum Abendessen sagte:

O, wie wohl ist mir´s am Abend nach diesem mühevollen Tag,
wo wir vor uns sehn erlabend diese Schnitten mit Belag.
Laßt nun schwinden mal die Sorgen vor dem Tommy, der da naht!
Wer weiß, was wir erleben morgen? Drum eßt euch alle tüchtig satt.

Meine komische Schrift kommt von einer häßlichen Wunde am kleinen Finger. Von Ruth erhielten wir schon einen lieben Brief, sie wird doch an der Saale auch schon unter´m Engländer sein. Aber sie ist doch wenigstens bei ihren Eltern. Wie mag es meinen Lieben gehen? Mutter sorgt sich gewiß sehr um mich! Wo mag Paul sein? Aber ich bin so ruhig, weil ich weiß, daß wir überall in Gottes Hand sind. Hoffentlich geht es den Gummersbachern gut, dort sind auch Kämpfe.

Donnerstag, den 19.4.1945

Wieder sind 3 Tage vergangen, in denen sich allerhand geändert hat. Gestern war eine höhere Kommission hier mit einer reizenden Rotekreuzschwester Luise Schubert, die am liebsten hiergeblieben wäre. Also, diese Kommission hat beschlossen, daß Liesel und Schwester Gerda fort müssen. Sie haben sich diese Nacht zu Fuß wegen der Tiefflieger auf den Heimweg gemacht. Nun ist Frl. Richter unsere "Oberste". Aber, oh weh, heute der Wehrmachtsbericht! Die Russen kämpfen um Berlin, bald werden die Engländer auch dort sein von Magdeburg aus. Zwischen Zwickau und Hof kämpften sich die Feinde ins Gebirge rein. Das geht in unsere Richtung! Wenn die Engländer nur schnell kommen würden. Die Russen sind schon über Görlitz raus, das geht auf Dresden. Der Krieg ist sicher bald aus. Aber wir leben hier weiter noch so ruhig. Bloß die Tiefflieger aasen feste hier in der Gegend und das Frontschießen ist oft sehr deutlich zu hören. Wir trocknen eifrig Brot für den Notfall. Die Kleinen hängen den ganzen Schlafsaal voll Brot, was sie sich absparen. Heute hat Frl. Dr. Trilling Geburtstag. Wir haben uns heute mittag alle etwas Nudelsuppe abgespart und schenkten ihr diese in einem süß verzierten Topf mit einem entzückenden Gedicht, von Jutta verfaßt. Noch etwas zum Heeresbericht. Die Kämpfe zwischen Rhein und Ruhr sind beendet. Nun brauchen wir nicht mehr so Sorge um unsere Lieben dort zu haben. Aber südlich von Bremen wird noch gekämpft. Gott schütze nur meine Lieben!

Sonntag, den 23.4.1945

Der Sonntag geht ja viel zu schnell hin, nun ist schon wieder Nachmittag. Heute morgen gingen wir zur Kirche, wo wir eine schöne, aufrichtende Predigt hören über "Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes." - Wir sitzen immer und warten, daß der Engländer hierherkommt und nicht der Russe eher, denn er macht enorme Fortschritte vor Berlin und auf Dresden zu. -

In Bärenstein bei Weipert ist jetzt ein Luftwaffen-

 

magazin aufgelöst worden. Den Inhalt bekommt die K.L.V., Wehrmacht und Rotes Kreuz. Wir waren schon 3 mal dort und ergatterten herrliche Dinge, z.B. Leder, Stoffe, Wolle usw. Bald sollen sie an uns verteilt werden.

Montag, den 24.4.1945

Gestern wurde ich unterbrochen und mache nun Fortsetzung im Silentium, die Schularbeiten habe ich fertig. Heute morgen hat Frl. Dr. Trilling in richtig mütterlicher Weise mit uns gesprochen. Es besteht nämlich, seit Liesel hier war, eine angenehme Spannung im Lager. Liesel hat Klasse 6 gegen die Lehrer aufgehetzt. Bei uns hat sie´s auch versucht, aber ohne Erfolg. Wir halten zu den Lehrern bis auf Ausnahmen (Inge R., z.B., die noch feste mit Ruth D. zur Partei hält). Frl. Richter und Nolte können bald nicht mehr, der passive Widerstand der Klasse 6 ist aber auch furchtbar. Dazu hat Frl. Richter noch viel Last von ihrer Gehirnerschütterung. Aber ich selbst bin auch ziemlich traurig über unsere Klasse, fühlte mich wohl oft einsam, wenn unsere alte B nicht wäre. Die Clique Gertrud L., Margret S. und Edith K. stößt micht oft so ab. Sie behandeln uns oft gar nicht als ihresgleichen, merken das aber nicht. Sie lassen den Unterschied zwischen A- und B- Klasse nie verschwinden, soviel wir uns auch bemühen. Ich komme auch gut alleine aus, es wäre mir auch wurscht, wenn ich keine Freundin hätte. Mit Irmgard verstehe ich mich wieder besser, wir sind alle schon mal nervös und dann ruppig. - Mit Frl. Weyer geht was vor sich, das weiß bald die ganze Schule. Ich glaube, sie versteht sich sehr gut mit einem jungen lettischen Arzt. Ich gönnte ihr von Herzen einen netten, guten Mann. Was mag Thea machen? Ihr junges Glück wird nun durch diesen wahnsinnigen Krieg so gestört!

Wir sollen hier jetzt 8 Tage keinen Strom mehr haben, hören also nichts mehr, was draußen vor sich geht. Nur Bruchstücke gelangen zu uns, z.B. daß der Russe bald in Berlin und Dresden sein wird. Käme doch der Engländer endlich hierhin. Heute nacht war eine wüste Schießerei in der Ferne. Die Spannung auf das, was kommt,

macht einen doll. Seit heute nacht schneit es immerzu. Die armen Blümchen und das junge Grün tun mir so leid!

Gerade kommt M. Strinz mit dem Wehrmachtsbericht: Der Kampf um Berlin ist entbrannt, die ganze Bevölkerung kämpft mit, der Führer ist dort. Daß es soweit kommen mußte! Erschütternd.

Gerade waren [wir] oben wegen des Stoffes. Ich habe Stoff für ein dünnes Jackenkleid und Stoff für eine Windjacke gewählt. Schick ist das! Meinen braunen Pullover habe ich ausgeriffelt und stricke mir einen neuen, weil der alte ganz aus dem Fasson war. Unsere Klasse ist richtig strickwütig!!

Montag, den 30.4.1945

Vor lauter Stricken komme ich kaum noch zum Tagebuch schreiben. Aber morgen, am 1. Mai, haben wir frei. Da brauchen wir keine Schularbeiten zu machen und ich kann was für mich tun. Heute hatte ich eine herrliche Freude: Post von Thea und Paul!! Damit hatte ich schon lange nicht mehr gerechnet. Thea schreibt ziemlich gehetzt, aber was tut das! Ihr Brief ist vom Ostermontag, es sei dort höchste Alarmbereitschaft, kein Zug fährt mehr, der Brief ist von einem Auto mit über die Weser genommen worden. In Uchte überall Barikaden. Hoffentlich waren dort nicht soviel Kämpfe!

Paul schreibt von dem Weg zur Ostfront. Er ist Unteroffizier, war in Leipzig bei einem Bombenangriff fast verschüttet. Wie gnädig hat Gott ihn wieder behütet! Er schreibt so lieb, daß wir uns sicher wiedersähen und alle unter Gottes Führung ständen. Vater hat es gut. Wenn es mal irgendwie schiefgehen sollte, könnte ich mich ja an die Schweizer wenden. Gott gebe, daß ich das nie nötig habe!

Gestern war wieder ein wunderschöner Sonntag. Der Gottesdienst ist immer eine unbeschreiblich schöne Stunde für mich. Nachmittags wanderten wir mit Dr. Euing und Frl. Dr. Trilling zum Spitzberg. Die Täler sind alle so anmutig und lieblich vom Frühling geschmückt,

 

daß ich mich gar nicht sattsehen konnte an allem. Weg waren alle Sorgen, die immer drohender werden. Russe und Engländer haben sich bei Meißen vereinigt, Göring ist wegen Herzfehler!!!! von der Regierung zurückgetreten. Aber hier in der Nähe ist die Front so unheimlich ruhig, hoffentlich will der Engländer nicht dem Russen das Gebiet überlassen! Dann wollen wir uns alle zu Fuß auf den Weg machen.

Unsere Rotekreuzschwester Johanna ist zum Glück endlich gekommen. Sie hat mich schon in der Praxis gehabt, denn ich habe mal wieder ein Geschwür in der rechten Handfäche. Herr Scharschmidt malt eifrig ein Schild mit der Aufschrift "D.R.K. - Kinderheim".

Unser Bibelkreis bei Pastor Laser wird immer schöner. Wir sprechen jetzt auch schon mal über persönliche Fragen. Zum Glück hat Irmgard mal den Mut, zu fragen. Ich bin einfach zu steif und komme mir schrecklich naiv den anderen gegenüber vor.

Ich glaube, das Verhältnis in unserer Klasse wird besser, wir sind alle freundlicher zueinander. Unsere Tischordnung ist grundlegend geändert worden. Die Lehrer essen wieder bei uns, wir sitzen bei Frl. Richter. Die Klassen von der Volksschule waren zu wild beim Essen holen, wir aber auch! Jetzt werden alle Schüsseln durch Nummern kenntlich gemacht, so daß kein Tisch mehr bekommt als der andere. Ja, das tut der Hunger!! Frau Scharschmidt ist übel dran: Die Kartoffeln sind bald alle, es gibt keine nach! Woher sollten die auch kommen, wir sind ja abgeschnitten von aller Welt.

Die organisierten Sachen aus Bärenstein sind jetzt alle verteilt, soviel hatte ich nicht erwartet. Ich bekam einen guten, dicken Mantelstoff, Stoff für ein Kostüm (fliegerblau), für eine Windjacke, 10 Rollen weißen Twist, 3 Rollen Zwirn, ein Riesenstück dunkelblaues Leder mit Futterleder für Stiefel und hellgraue herrliche weiche Wolle für 2 Paar Söckchen. Sowas noch im 6. Kriegsjahr!! Wir können ja gar nicht dankbar genug dafür sein, daß wir hier noch so still und friedlich leben.

Donnerstag, den 3.5.1945

Jetzt muß der Krieg aber doch bald aus sein! Gestern kam die Nachricht, daß Hitler in Berlin gefallen ist. Manche von uns waren traurig, als ob ein Angehöriger gestorben wäre. Es geht trotz allem weiter, aber sicher nicht mehr lange. Dönitz ist sein Nachfolger. - Der Engländer ist schon in Mittenwald! Was werden da für Erinnerungen wach! Aber warum kommt der Feind nicht hierhin? Die Spannung macht einen verrückt! Im Lager wieder wichtige Veränderungen. Die Rotekreuzschwester hat sich verdrückt, wieder der ewige Krach mit den Lehrern. Frl. Nolte und Frl. Richter sind total zusammengebrochen. Die Lehrer haben ja keine Geltung mehr. Und Bruni, dieser Nazi, steckt immer dahinter. Warum kann denn hier kein Friede sein? Nun stehen wir nicht mehr unter dem Roten Kreuz. Was mag werden?

Klasse 4 und 5 mußten die Volksschule räumen und sind zu uns gezogen. Sie sind in Klasse 6 und Schlafsaal 3 untergebracht. Große Enge, aber es geht noch. Ich bin mit Maria zu unserer Klasse gezogen, wo noch 2 Betten reingestellt worden sind. Da habe ich so ein gemütliches Plätzchen, meine Bilder hängen alle über meinem Kopf, neben mir habe ich ein Spind wie einen Nachttich. Schlafen tut man da ganz himmlisch.

Frl. Richter hat ihr Amt als Lagerleitung an Frl. Götte übergeben. Die gibt sich sehr viel Mühe, allem gerecht zu werden, es gelingt ihr auch zum größten Teil. - In der Schule führen wir ein ganz gemütliches Leben, wenig Schularbeiten werden gemacht. Es ist einem aber auch alles ziemlich egal, schade drum. Die Kunstgeschichte ist sehr fein, wir sprechen über Dürer. - In Deutsch lesen wir den Faust, Frl. Götte kann das aber nicht schön mit uns.

Den 1. Mai haben wir schön verbracht. Morgens machten wir mit Frl. Dr. Trilling eine ganz herrliche, unbeschreiblich schöne Wanderung ins Comdubbeltal. Nachmittags führten wir Volkstänze auf, sangen, sagten Gedichte usw. Dann wurde getanzt - getanzt, es war richtig schön. Aber wie ernst war

 

alles, die Front war so gut zu hören. Und dann der Wehrmachtsbericht!

Frl. Dr. Trilling sorgt rührend dafür, wie Mutter, daß ich jetzt oben turnen kann, weil ich mich so schlecht halte.

Freitag, den 11.5.1945     Johanngeorgenstadt

Was hat sich jetzt nicht schon wieder alles ereignet, ich könnte Bände erzählen! Aber kurz gefaßt ist besser. Also, mal alles der Reihe nach:

Am Montag fing die Aufregung an. Nachmittags hieß es: "Morgen schulfrei zum Rucksacknähen." Mir schwante nichts Gutes. Wir hatten so lange keine Nachrichten gehört, kein deutscher Sender tut´s ja mehr. Also haben wir das Ausland gehört und vernahmen von Waffenstillstand und Aufständen in der Tschechei. Und schließlich hörten wir dann am Montag von Herrn Küpper: Der Russe bei Freiburg/Elbe, in unserer bedrohlichen Nähe. Er kam auch immer näher. Dienstag schon in Annaberg, immer näher. Eine Konferenz jagte die andere, wir waren stündlich abmarschbereit mit allem nötigen Gepäck, bis es dann Mittwoch soweit war. Morgens um 11 Uhr sollte das ganze Lager abmarschieren, aber der Russe kam uns zuvor. Erst eine Vorausabteilung in der Polizei, die wir von der Haustür aus beobachteten. Noch tagte die Konferenz. Oben auf der Pleyler Landstraße zog eine Russenkolonne nach der anderen dahin. Tolle Reiter, aber fiese Gesichter. Endlich, Konferenz zu Ende!! Wir standen wie auf glühenden Kohlen. Klasse 6 und 7 mußten in den großen Tagesraum kommen. Wir setzten unser Letztes durch, um fortzukommen. Für uns Große war ja auch mehr Gefahr. Und es gelang uns. Zwar hieß es: Nur das Nötigste mitnehmen, also alles wieder umgepackt, wobei die Hälfte vergessen wurde. Alles andere kam gut verpackt auf den Speicher. Jeder bekam ein 4 Pfd. Brot, 100 g Margarine, 1 Dose Sardinen, 9 Zückerchen und eine Doppelschnitte, das sollte reichen für eine Woche. Mit uns wollten Frau Pfeiffer mit der kleinen Josemie und Lene Majors Schwester Lisabeth. Beide schrecklich aufgeregt. Dann kam der schwere Abschied, vor allem

von Gertrud Löhr und Inge Hausmann, die dageblieben sind. Herr Scharschmidt hatte die Augen voll Tränen. Dann ging´s los unter Leitung von Herrn und Frau Denzel, Frl. Dr. Trilling, Frl. Nolte, Frl. Richter, Frl. Oberthür mit Nichte Inge Bevard aus Kl. 1. Schon oben auf der Landstraße die erste "Feindberührung". Zwei Russen hielten uns auf und fragten nach Ziel, Alter und befahlen, allen Schmuck abzulegen. Noch sehr anständig!! Dann ging es weiter in glühender Mittagssonne. Trotz leichten Gepäcks (ich hatte meine grüne Tasche halbvoll und die Rolle mit Decke und Kopfkissen) fiel der Marsch gar nicht so leicht. Wir hörten lange die russischen Kolonnen auf einer Parallelstraße rollen, komisches Gefühl! Viele Soldaten überholten uns, die auf dem Weg nach Hause waren. Jeder erzählte was anderes, wo der Russe und Tommy sei. Wir ließen uns aber nicht beirren. Öfters machten wir Rast, es ging dann besser. Oft überholten uns auch noch Russen, die uns aber ungestört ziehen ließen. Abends gelangten wir dann nach Böhmisch-Wiesenthal, wo wir Quartier suchten und fanden: In einem sauberen Fabriksaal auf Holzwolle, durch einen Tisch getrennt von einem Trupp müder Soldaten!! Aber uns war alles wurscht. Wir wuschen uns, sanken hin und pennten wie die Säcke. Gegen morgen war´s arg kühl, ich schlief mit Irmgard und Maria unter meiner Decke. Morgens am Bach gewaschen und dann weitermarschiert über 1000 m Höhe, durch manches saubere Dörfchen, liebliche Täler, immer am Bach vorbei, süße Mittagsruhe am Bach. Füße voll Blasen, aber was macht das? Leute erzählten: Von Georgenstadt fahren Züge! Das spornte uns zu verschnelltem Marsch an, trotz aller Mühe. Die Sonne brannte doll, ich war so warm angezogen, der Schweiß triefte.

Um 17 Uhr waren wir dann hier, das war ein Gefühl!! Wir trotteten halb bewußtlos zur Jugendherberge, wo aber kein Platz war. Ein Frl. Bender, gute Bekannte von Maria aus Rheydt, empfing uns sehr lieb. Aber trotzdem mußten wir weiter zur Berufsschule trotten, die kleinen Mädel

 

von der Jugendherberge halfen uns tragen. Ja, und hier sind wir nun nach 45 km Marsch, haben heute Nacht himmlisch geschlafen, führen ein faules, geruhsames Leben, haben heute leckere Kartoffeln gegessen, selbst geschält. Kartoffeln gab´s in Jöhstadt nicht mehr.

Herr und Frau Denzel sind so rührend lieb. Nun haben sie uns bis hier gebracht und wollen morgen zurück. Jetzt hat man ihnen und Frl. Oberthür das Rad gestohlen, große Trauer. Sie tun mir so leid. Und nun wollen wir mit dem Zug weiter, ob und wann es wohl klappt? Man soll gar nicht in den Zug reinkommen vor Vollheit. Aber bloß die Hoffnung nicht aufgeben! Wir haben ja das Ziel "Heimat" vor Augen. Wir freuen uns unbändig! Hier ist der Amerikaner, das Sternenbanner weht über der Stadt. Also haben wir unser Ziel "zum Engländer" geschafft. Ich bin Gott so dankbar und bitte ihn, uns weiter zu behüten und mir ein frohes Wiedersehen mit meinen Lieben zu schenken!

Samstag, den 12.5.1945             Aue         15 Uhr

Liegen seit 12 Uhr auf dem Bahnsteig auf der Erde im Dreck, schwitzen, faulenzen, sind müde und haben Hunger. Warten auf den Zug, der uns nach Chemnitz bringen soll.

Sonntag, den 13.5.1945             Thalheim

Inzwischen war der Zug gekommen. Unsere Lebensgeister werden hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Mutlosigkeit.

In Johanngeorgenstadt hatten wir uns in einen übervollen Zug gequetscht, der uns über Schwarzenberg nach Aue brachte. Nach Zwickau konnten wir nicht, also nach Chemnitz. 5 Stunden warteten wir in dem oben beschriebenen Zustand [vgl. Eintrag vom 12.5.1945]. Dann wieder in den vollgepfropften Zug. Soldaten auf den Dächern und Trittbrettern. Pfeiffers und Geschwister Major blieben zurück.

Bis Einsiedel ging die Reise, zu Fuß wollten die Lehrerinnen nicht nach Chemnitz, um 20 Uhr war ja auch Sperrstunde durch die Besatzung. Also wieder zurück nach Thalheim, von wo wir zu Fuß nach Stolberg wollten. Von da sollten dann Bahnverbindungen sein. Aber heute waren Trilling usw. da (7 km), es hat keinen Zweck, kein Zug fährt von dort. Wir haben hier bei freundlichen Leuten in einem Wirtshaus Quartier gefunden, auf Sofas und Bänken herrlich geschlafen, heute den ganzen Tag im Wald gelegen, hier und im Ratskeller Suppe gegessen, und Trübsal geblasen. Hier ist alles so friedlich schön, im herrlichsten Maiblütenschmuck. Morgen wollen wir nochmal versuchen, ob man nicht von Chemnitz weiterkommt. Möge Gott uns doch helfen! Die schwierigste Frage ist die Ernährung, wir sparen wie verrückt, werden zusehends magerer. Eben haben wir uns ein 2 Pfd. Brot gekauft und unter 10 Mann geteilt. (1 1/2 Schnitte!!!) Hoffentlich klappt es nun mal! Wir haben sooo Heimweh. Wenn wir bloß nicht nach Jöhstadt zurückbrauchen!!!

Dienstag, den 15.5.1945

An einer amerikanischen Sperre vor Cossen.

Nun sitzen wir hier und warten, daß man uns durchläßt. Meine Hoffnung ist sehr klein. Was soll aus uns werden? Gestern sind wir mit dem Zug nach Chemnitz gefahren und von da aus den ganzen Tag von einer Sperre zur anderen geirrt, immer ohne Erfolg. Immer tönte uns das vernichtende: "Go back!" entgegen. Frl. Nolte redete umsonst. Unser Mut sank immer tiefer. Wie, wenn wir nach Jöhstadt zurückmüßten zum Russen?! Der soll dort arg gehaust haben. Dann kämen wir ja nie mehr nach Hause! Gestern abend fanden wir Quartier bei sehr netten Leuten in einem alten Gutshof zu Taura-Markersdorf, wo wir auf dem Speicher auf dem

 

harten Boden schliefen. Wir aßen mit Soldaten an einer großen Tafel im Hof leckere Kartoffelsuppe und tranken süßen Kaffee, aßen dazu eine Scheibe Schwarzbrot. Es war richtig schön, ein junger Bielefelder Leutnant kam zu uns und wir plauderten gemütlich an dem herrlichen Maiabend.

Viele Eindrücke hatten wir am gestrigen Tag. Schrecklich war es, als ungefähr 15 Minuten lang eine Riesenkolonne Russen an uns vorbeimarschierte und die Amerikaner dicht an unseren Ohren Schreckschüsse abgaben, um uns zu vertreiben. Im Chemnitzer Zug traf ich einen Mann aus Kirchdorf, der Familie Oldenburg gut kennt. Alles will zurück in die Heimat. Ob der Amerikaner denn gar kein Einsehen hat?? Was hat Gott mit uns vor? Wenn er doch all unser Flehen erhörte! Aber so darf man nicht denken, wir müssen uns fügen. Vielleicht geht es doch nochmal gut, aber wann?

Mittwoch, den 16.5.1945         Burgstädt

Nun sind wir hier gelandet und leben unter gesetzmäßiger Herrschaft der Amerikaner. Kommen aber vorläufig nicht raus, weil keine Sperre einen durchläßt. Erst sollen die Ausländer, Soldaten und dann wir rauskommen, also können wir wieder etwas Hoffnung haben. Gott hat uns so gnädig geführt, wir können nicht dankbar genug sein.

Gestern gingen wir von der Sperre aus in diese nette, kleine Stadt, saßen den ganzen Nachmittag auf dem Rathaushof, holten uns Lebensmittelkarten und einen Passierschein (doch zwecklos). Zwischendurch standen wir lange für ein Pfd. Brot Schlange. Frl. Dr. Trilling versuchte mit Richter und Nolte, was beim amerikanischen Kommandant zu erreichen, ohne Erfolg. Viele Leute quatschten uns an, die in der gleichen Lage waren wie wir.

Gegen Abend durften wir uns selber Quartier suchen, um nicht wieder auf dem harten Fußboden schlafen zu müssen. Ich bin mit Maria und Marion

bei Bankdirektor Frick untergekommen. Sehr nette Leute, tolle Villa, herrliche Betten. Zum Abendbrot gab uns Frau Frick ein himmlisches Stück Leberwurst mit Kresse und Tee. Dann durften wir uns in der Waschküche ganz waschen und fühlten uns wie neu geboren. Allerdings kam ein Mann rein und sah mich splitternackt! Lot man jon .... Im Garten schaukelten wir noch ein wenig mit der kleinen Ursula und sanken dann in die Betten und schliefen seelig und süß bis 8.45 Uhr.

Zum Frühstück kriegten wir Kaffee und gingen dann zum Rathaus, unserem Treffpunkt. Die 3 Lehrerinnen sorgen rührend für uns, Frl. Dr. Trilling schimpft zwar dauernd, aber wir rechnen es ihr hoch an, daß sie alles so mit und für uns tut.

Heute mittag aßen wir im Feldschlößchen herrlichen Kartoffelsalat mit Sülze und sitzen nun gemütlich in unserem Zimmerchen.

Das Verhältnis zwischen Russe und Amerikaner ist ziemlich gespannt, wenn da nicht noch ein Krieg kommt!!

Freitag, den 18.5.1945         Burgstädt

Nun sind wir schon 3 Tage in Burgstädt und fühlen uns recht wohl. B. ist aber auch ein so nettes, friedliches Städtchen und seine Einwohner so lieb, daß man sich direkt wohlfühlen muß. Wenn nur die Sorge nicht wäre: Wann kommen wir mal endlich weg? Viele Ausländer und Soldaten sind bereits fort, und heute wurde uns bei unserem allabendlichen Treffen um 18 Uhr im Rathaushof die Möglichkeit eines Passierscheins nach Leipzig gemeldet. Wenn das doch klappte!! Wir können sonst nicht raus aus B., heute haben wir zum letztenmal für 4 Tage Verpflegungskarten erhalten. Mit der Verpflegung ist es ziemlich mies bei den vielen Flüchtlingen und Soldaten, die sich hier angesammelt haben. Für Brot z.B. stehen wir immer eine Stunde Schlange. Aber wie glücklich sind wir über jeden

 

Bissen, haben oft Kohldampf. Manche von uns, z.B. Irmgard und Marlies, werden ganz bei ihren Quatierleuten verpflegt. Wir können uns auf unserem Gaskocher abends und morgens Kaffee oder Tee kochen, gestern abend gab´s mal einen Teller herrliche Kartoffelsuppe. Mittags essen wir zusammen gut im Feldschlößchen. Wir helfen auch dort in der Küche abwechselnd morgens und mittags und bekommen tolle Butterbrote dafür. Die ganzen Soldaten werden dort verpflegt, und das Spülen ist eine Heidenarbeit. - Die Familie Frick ist sehr nett, sie zwar etwas kühl. Mit der 12-jährigen Ursel verstehen wir uns ganz gut, sie hat uns auch Bücher geliehen. Herr Frick hat uns für den Notfall sogar Geld angeboten. Er ist besonders nett, erinnert mich so an Willi Bernd.

An seine kärgliche Garderobe gewöhnt man sich bald. (1 Kleid!) Wenn wir doch nach Hause könnten! Wie mag Mutter sich sorgen! Das quält mich am meisten. Was wird sie sagen, wenn ich auf einmal da bin? Aber das dauert ja noch sooo lange.

Pfingstmontag, den 21.5.1945           Burgstädt

Das erste Pfingstfest fern der Heimat und ohne die Lieben, ganz in der Fremde! Das sind Gefühle! Aber wenn doch Mutter und die anderen wüßten, wie gnädig Gott mich bisher geführt hat! Dann wäre eine große Last von meinem Herzen genommen. Beide Feiertage verleben wir ruhig und still. Zweimal durfte ich Gottes Wort hören und heute mit Irmgard zum Abendmahl gehen. Gestern nachmittag machten wir alle zusammen einen herrlichen Weg in die schöne Umgebung von B. und unterhielten uns mit Frl. Dr. Trilling angeregt über Politik. (Partei z.B. !!!)

Beide Mittage haben wir im Feldschlößchen herrlich gegessen. (Erbsen und Möhren, frischen Salat, viel Kartoffeln und tolles Fleisch, heute sogar eine Riesenportion Pudding.) Das war ja was für uns! Wir sind aber auch so ausgehun-

gert. Am Samstag abend habe ich eine Wassersuppe mit Grieß gekocht. Dürftig!! Heute machen wir´s mit Milch. Bis 17 Uhr haben wir gerade im Bett gelesen und gepennt. Fricks kümmern sich nicht viel um uns. Warum auch? Bloß Samstagabend brachte er uns eine Flasche Erdbeermost, die wir würdig verdrückten. Gestern gab´s sogar ein leckeres Stückchen Kuchen, der kleine Konrad hatte Geburtstag. Wir hatten ihm früh am Morgen ein Ständchen gebracht. Er hat vielleicht Sachen bekommen!!! Fricks sind herrlich eingerichtet, scheinen aber geistlich, auch kirchlich, nicht sehr interessiert zu sein.

Die politische Lage liegt arg drückend auf einem, es kommen die ersten Nachrichten, daß die Soldaten in Nordwestdeutschland zu Aufräumungsarbeiten in Frankreich usw. interniert werden. Der Feind macht eben alles mit uns, was wir ihm vorgemacht haben, wir sind ganz ohnmächtig. Sonst benimmt der Amerikaner sich ganz anständig. Wie mag es in Jöhstadt sein? Vom Russen hört man nichts Gutes. Wenn wir doch bloß bald hier wegkönnten!!!

Mittwoch, den 23.5.1945         Burgstädt

Was ist mit mir los? Oft kriege ich so dolles Herzklopfen, und meine, ich müßte Mutter jeden Augenblick um den Hals fliegen, um mich dann an ihrem Herzen ausweinen zu dürfen. Was mag Mutter machen? Heute nacht war ich im Traum so deutlich an Vaters Grab, oh, ich habe so Heimweh, auch besonders nach Vater. Sollen wir denn ewig hierbleiben? Lebensmittelkarten gibt es für uns nicht mehr, wir müssen zur Berufsschule in die Gemeinschaftsverpflegung. (2 Schnitten Brot und 1 Teller Suppe pro Tag, wofür man stundenlang anstehen muß). Aber Fricks haben versprochen, uns nicht hungern zu lassen. Sie sind sehr lieb. Wir helfen ihr schonmal in der Küche, gestern gab sie uns eine Schüssel mit Kirschen und einen Apfel!!! und 1 Stück herrliche Seife. Marion

 

soll ein Federbett bekommen, sie hatte gestern Blasenschmerzen. Mit Ursel und Konrad machen wir oft Gesellschaftsspiele, lesen usw.. Gestern haben wir uns übel gegessen an Wurstbrühe. Heute den ganzen Morgen im Feldschlößchen Kartoffeln geschält und gepellt. - Neue Nachrichten: Aufhebung sämtlicher Luftschutzmaßnahmen. - Hannover, Schleswig, Westfalen und ein Teil der Rheinprovinz unter englischer Herrschaft. - Alle Leute, vom Osten zum Westen kommend, müssen erst in eine Entlausungsanstalt und zur Untersuchung auf ansteckende Krankheiten. Soll uns ja alles egal sein, wenn wir bloß NACH HAUSE kommen.

Samstag, den 26.5.1943         Burgstädt

Noch immer hier! Ach, es ist zum Dollwerden! Neues hat sich nicht ereignet, was zu notieren wäre. Nur hat sich heute ein großer Teil der Flüchtlinge aus der Berufsschule zu Fuß auf- und davongemacht. Aber wir können uns natürlich nicht entschließen, die Strapazen wären doch zuviel!!!!! Ach, mit den Lehrerinnen haben wir so unsere liebe Not. Sie machen sich direkt eine Freude daraus, schwarz zu sehen und uns dadurch einzuschüchtern, ohne Erfolg natürlich. Wenn Frl. Dr. Trilling schon vom Rathaus kommt mit dem üblichem Gesicht und dem Ausruf: "Also, ich war auf dem Rathaus - nichts!!" Aber laß´ man, sie laufen und stehen überall an, um was zu erreichen, das können wir ihnen nicht genug anrechnen.

Zu Mittag dürfen wir noch reichlich und gut im Feldschlößchen essen. Heute haben wir sogar nochmal für 2 Tage Karten bekommen. Morgens schälen wir eifrig alle 2 Tage dort Kartoffeln und bekommen leckere Brote, dazu auch mal süße Suppe. Frau Rentzsch ist richtig lieb zu uns. An der Berufsschule holen wir uns abends eine dicke Scheibe Brot mit Marmelade oder Wurst. Das soll für den ganzen Tag sein!!! Vom Mittag kriegen wir abends leckere Suppen, werden folglich besser

satt. Frau Frick sorgt so lieb für uns mit Suppe, Brot, Kartoffeln, usw. sogar mal eine Flasche Wermutwein. Heute hat Ursel uns ein süßes Hemdchen aus der Fabrik ihrer Oma geschenkt, vorige Tage jedem einen guten Waschlappen. Wenn wir der Familie Frick doch mal alles gutmachen könnten! Wir haben jetzt eine Steppdecke und Marion ein Federbett, das ist ein herrliches Gefühl. Maria und ich zanken uns nur oft nachts um die Decke.

Mit Marion kommt man nicht gut aus, die anderen bewundern uns beide oft. Sie steht bei der Arbeit oft hinter einem und gibt in wenig nettem Ton Anweisungen, wie ich´s machen soll. Ich weiß eben, daß ich nicht die Geschickteste bin, ist mir auch sehr arg. Mit ein bißchen gutem Willen kommt man auch mit Marion aus. Maria läßt leicht den Kopf hängen: Himmelhochjauchzend usw.

Montag, den 28.5.45          Burgstädt

So, wenn wir heute keinen Passierschein bekommen, wandern wir morgen früh um 6 Uhr los. Einen Weg haben wir ausgekundschaftet über die Mulde. Möge Gott uns doch weiterhelfen, daß wir vorankommen! Hier haben wir es so gut gehabt, an Burgstädt werde ich noch oft und gerne zurückdenken, besonders an Familie Frick. Ich gehe auch mit der Hoffnung weg, daß Gott uns hilft und uns nicht verhungern läßt. In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet! Da muß ich immer dran denken und mir dann das Ziel: "Heimat - Mutter" vor Augen halten, dann soll´s schon klappen. Drum weiter mit Gott!

Burgstädt, den 30.5.45

Nun sind wir doch noch einen Tag länger hiergeblieben, aber aus einem freudigen Grunde! So kam das: Gestern morgen standen wir pünktlich um 5.45 Uhr am Gartentor, von Frau Frick begleitet, als

 

Frl. Dr. Trilling kam und es hieß: Noch einen Tag hierbleiben, gestern abend noch Passierschein bekommen, ein Auto nimmt uns mit bis Altenburg. Das war eine Freude! So sparen wir 2 Tage und viel Kraft. Vorgestern abend hatten wir noch so gelacht. Erst wollte ich meine Seifendose für Marmelade auskochen, die dadurch eine unmögliche Form bekam. Dann hatten Fricks uns ein altes, klappriges Fahrrad aus den Trümmern von Chemnitz für unser Gepäck angeboten. Aber trotz allen Versuchen klappte es nicht, und wir ließen es stehen. Der Abschied von Fricks fiel uns recht schwer, sie hatten uns Burgstädt doch richtig heimatlich gemacht. Zum Essen brachten sie uns noch Brot und eine Schüssel herrlichste Leberwurst, und morgens durften wir uns in der elektrischen Kaffeemaschine Kaffee kochen. Ursel hat richtig geheult beim Abschied, sie hat uns so manchen Gefalllen getan und war ein lieber Kerl, auch Konrad.

Gestern kriegten wir den Tag mit viel Lauferei um, ich hatte eine kleine Magenverstimmung und legte mich nachmittags ins Bett. - Nun müssen wir hier vor dem Haus des Autobesitzers Berger 4 Stunden sitzen, weil das Auto erst um 9 Uhr fährt. Dabei sind wir schon um 3.30 Uhr aufgestanden!!!

Zeitz, den 30.5.45

Diesen Tag will ich nur eben kurz beschreiben: Das Auto brachte uns schnell bis Rositz, 5 km hinter Altenburg. Von da zu Fuß bis Kriebitsch, dort freundlicherweise für 3 Tage Verpflegung bekommen, leckere Suppe gegessen, im Gras süß geruht, um 17.20 Uhr mit dem Zug bis Zeitz, wo wir beinah einen Zug bekamen, der vermutlich nach Naumburg fuhr! Dann Quartier gesucht und hier in einem schönen sauberen Hotel bei netten Leuten gefunden, in richtigen Hotelzimmern mit überzogenen Betten!! Zum Abendbrot Bier, heute haben wir massig Brot gegessen. Mein Rucksack (früher Tasche!) trägt sich gut, besser, als alles in den Händen.

Hier sind viele Amerikaner, auch mehr Zerstörungen. Heute haben wir fast 60 km nach Westen geschafft. Gott sei Dank! Zeitz ist keine schöne Stadt, so grau und tot. Junge, wir lernen Deutschland kennen!!

Halle, den 31.5.45

Bum! Wir sitzen wieder fest! Aber dafür sind wir schon in Halle, was noch ziemlich unzerstört ist. Aber das war ein Tag! So erbärmlich bin ich mir noch nie vorgekommen. Also kurz: Von Zeitz nahm uns ein Auto der Fahrbereitschaft mit nach Merseburg. Um 10.30 Uhr ging es los im offenen Lastwagen bei strömendem Regen und pfeifendem Wind. Hu, so uselig! Bis auf die Haut naß, viele Sperren passiert, in Merseburg wie die begossenen Pudel ausgestiegen, von da weiter per Straßenbahn bis an den Rand von Halle, über die Saale am Posten vorbei. Hier sind wir in einer Schule untergekommen, keine Fenster drin, schlafen auf Bänken und auf dem Boden. Ich friere mich tot, kriege zuviel, wenn ich an die Nacht denke. Und dabei hat Irmgard einen eiternden Finger, ich ebenso, kann kaum schreiben vor Schmerzen. Irmgard hat heute Geburtstag!!!

Von hier soll man nicht weiterkommen. Unser Passierschein geht nur bis Bad Dürrenberg bei Halle.

Halle, den 2.6.45

Wie gnädig sind wir mal wieder geführt worden, ich bin so froh und dankbar. Also, in der Weingartenschule konnten wir es nicht mehr aushalten, es war zu kalt, der Boden zu hart, das Wasser durfte wegen Typhusgefahr nicht getrunken werden. Also: Quartiere suchen! Wir 3 machten uns zusammen auf die Suche und fanden hier bei Frau Langbein Unterkunft. Sie ist eine schrecklich liebe Frau, wohnt mit ihrem alten, rüstigen Vater in einer Dreizimmerwohnung in einem großen Block von Mietshäusern auf dem Stadtgutweg. Wir schlafen mit ihr im Zim-

 

mer in ihren Ehebetten, frischbezogen!! Sie tut alles für uns wie eine Mutter. Dabei hat sie selbst gewiß nicht zuviel. Die Leute hier im Haus sind alle so nett. Frau Müller von nebenan brachte uns heute herrliche Schnitten mit Pflaumenmus zum Frühstück. Oben die Frau Close hat Marion aufgenommen, trotz der Enge und ihrer vier Jungen. Gestern abend hat Frau Langbein mit uns ihre ersten Kirschen geteilt, das war vielleicht ein Genuß!! Und unsere eiternden Finger durften wir in Seifenlauge baden und frisch verbinden. Ich hab´s gerade am Zeigefinger und sooo Schmerzen. (Daher auch die Schrift.)

Heute morgen haben wir angefangen, uns Halle zu besehen, und wir sind angenehm enttäuscht. Als erstes guckten wir natürlich in zwei der vielen Kirchen (Georgen und Moritz), beide ziemlich beschädigt. Im Gotteshaus fühlt man sich gleich heimatlich, mag man sein, wo man will. In der ersten Kirche spielte eine sehr nette Schwester Orgel, und wir ließen uns gleich was vorspielen. 2 nette Mädchen von der Musikhochschule traten die Bälge. Dann Fortsetzung in der herrlichen, alten Moritzkirche, fast wie ein Dom. Ein junger Mann spielte von Bach, so herrlich war es, daß ich beinahe geheult hätte. Auf dem Rückweg sahen wir auch noch viel und kauften in einem Schreibwarenlädchen ein. Man kann hier schon wieder so gut einkaufen und merkt doch, daß Frieden wird. Zwar, wo man geht und steht, tauchen Amerikaner auf, man gewöhnt sich schon daran. Überall hängen Hetzplakate gegen die Nazis; viele laufen hier herum, die aus dem K.Z. entlassen sind. Oh, wir haben ja lange nicht gewußt, wie die Nazis uns betrogen haben!

Gestern habe ich zum erstenmal im Leben gebettelt und zwar um Brot!! Aber wir brauchen keine Angst vor dem Verhungern zu haben, Frau Langbein sorgt so lieb für uns. Heute mittag aßen wir mit von ihrer Suppe. Die Suppe in der Schule ist scheußlich. Wasser mit Nudeln, man kriegt sie erst um 16 - 17 Uhr. Brot gibt es etwas mehr als in Burgstädt. Hier ist es so ganz anders als bei Fricks, wir zählen fast richtig zur Familie. Trotz aller Einfachheit fühle ich mich recht heimisch.

Wüßte doch Mutter, wie gut es mir geht! Die Leute bedauern uns alle so. Ich finde das Leben gar nicht mehr so schlimm, wie wir´s führen, trotz aller Entbehrungen. Jeden Tag nehme ich, wie Gott ihn mir gibt. Und er hat uns noch immer so geführt, daß wir nur danken können.

Sonntag, den 3.6.45         Halle

Das war ein schöner Sonntag in Halle! Ganz kurz mal eben, das Schreiben ist zu mühsam mit dem wehen Finger: Um 5 Uhr früh schellte es, Frau Langbeins Sohn Erich kam aus Eger von den Soldaten. Die Freude!!! Wann uns die wohl vergönnt ist?? Wir tranken bald mit Kaffee (Bohnen!!) und freuten uns mit Langbeins. Frau Müller von nebenan, die uns wieder herrliche Mußchnitten brachte, weinte bitterlich, als sie Erich sah. Ihr Sohn ist vermißt. Wie hart ist es jetzt für die, bei denen einer nicht zurückkommt!

Um 10 Uhr ging ich mit Irmgard zur St. Moritzkirche, wo wir wieder den netten Orgelspieler herrlich spielen hörten. Predigt war mittelmäßig. Frau Langbein lud uns zu einem leckeren Essen ein, auch zum Kaffee. Maria holte unser Brot, 1 Pfd. für jeden (f. 2 Tage). Heute nachmittag ging ich mit Irmgard zu einer Missionsfeier auf dem Weidenplan und hörte dort schöne Posaunenchöre, dieselben Orgelstücke wie Samstag vom selben netten Organisten gespielt. Schöne Ansprache von Pastor Fink, der Vater nicht kennt, wie ich vermutet hatte. Es kam noch eine endlos lange Rede von einem Missionar. - Dann zurück durch die belebten Straßen. Überall wimmelt es von Amerikanern, sogar mit deutschen Frauen! Daß es aber auch immer solche Objekte gibt! Mir macht es immer Spaß, so stolz wie möglich, an den Amis vorbeizustolzieren.

Wir sind nun in Quartiernot. Langbeins haben doch jetzt keinen Platz, wo der Erich da ist. Und wir sollen uns polizeilich anmelden wegen der Marken. So ein Mist! - Na, kommt Zeit, kommt Rat.

 

Dienstag, den 5.6.45       Halle

Ich kann nur noch staunen und danken, wie Gott uns geführt hat! Das Gefühl, das in mir ist, kann ich einfach nicht beschreiben. Montag morgen haben wir verzweifelt nach einem Quartier gesucht. Maria und Irmgard hatten bald eins, Marion und ich immer noch nicht. Mir war das Weinen nahe, überall wurde man abgewiesen. Eine Schwester stellte uns ein Bett im Luftschutzkeller der Universitätsklinik zur Verfügung, aber da wollten wir lieber weitersuchen. Um kurz vor 12 waren wir totmüde und ohne Quartier an der Mittelstandsküche, wo wir jeden Mittag gut essen. Da machten wir einen letzten Versuch im Nebenhaus, und Gott führte uns zu Frau Schaaf, einer schrecklich lieben jungen Frau. Herr Schaaf ist nicht weniger nett. Und hier sind wir nun, haben ein nettes, schmales Zimmer mit Klavier und vielen schönen Büchern. Schaafs tun alles, um es uns heimisch zu machen, und es gelingt ihnen voll und ganz. Immer kriegen wir Kaffee, heute sogar eine herrliche Tasse Kakao und ein Tellerchen Salat. Das war ein Fest! Wir dürfen uns jederzeit zu ihnen setzen, sind aber wenig zuhause, dauernd auf Trab, weil wir noch in der Weingartenstr. verpflegt werden. Um 13 Uhr soll´s Suppe geben, aber wir müssen immer bis 17.30 warten. Na, das Warten haben wir gelernt. Bei Frau Müller (neben Langbeins) durften wir uns heute was von unseren Brocken waschen. Wir waren ganz gerührt. Heute morgen stand ich umsonst am Ernährungsamt für Marken an, hatte den Schein vergessen von der letzten Verpflegung. Pech! Heute nacht träumte ich zum 1. Mal von meiner Heimkehr nach Uchte, sonst immer nach Rheydt. Wenn das doch was Gutes bedeutete!! Ich hatte lange nicht mehr so ein Heimweh wie heute. Wenn Mutter doch bloß wüßte, wie gut es mir geht! Dann ließe sich alles viel leichter tragen!

Donnerstag, 7.6.45         Halle

Das war heute ein regelrechter Glückstag! Man hat richtig Spaß. Die Zeit in Halle werde ich immer in gutem Andenken bewahren. Schaafs sind so nett, ich kann es kaum beschreiben. Sie machen es uns hier richtig heimatlich und das tut einem so gut. Zu Essen kriegen wir reichlich, meine einst so schloddernden Kleider fangen wieder an zu passen. Schade!!! Wir haben uns ja polizeilich gemeldet und richtig Karten bekommen. Maria, Marion, Irmgard und ich sind als einzige zum Ernährungsamt in der Universität gegangen und haben vielmehr gekriegt, z.B. eine Kontrollkarte, auf die es eine Büchse Fleisch, 2 Pfd. Zucker und Obst gibt. Marion und ich haben besonderes Glück, nämlich Karten für 4 Wochen, also die eine Woche noch nach (Die andern nur 3 Wochen) Wir haben schon viel eingekauft, das Geld schmilzt, was mir ernste Sorge macht. Mein Bestand ist jetzt 53,50 RM! Da heißt´s: Sparen! 30 RM hat Maria mir schon geliehen. Die beiden hatten Pech, mußten sich wieder ein neues Quartier suchen. Der Junge, in dessen Zimmer sie wohnten, war so scheußlich, hat ihnen einen Zettel auf den Tische gelegt mit der Aufschrift: Ich bitte die Damen, das Zimmer bis Freitag zu verlassen, (wenn es geht) sonst geht mir der Hut hoch! So eine Frechheit. Aber sie haben schon ein nettes Neues befunden.

Doch nun was zum heutigen Tag: Frau Cottenhahn hier aus dem Haus arbeitet in der Badeanstalt. Die besorgte uns heute morgen schnell ein Wannenbad, wir brauchten nicht zu warten. Das Bad war vielleicht ein Genuß! Dafür fehlen mir die Wörter!! Auf dem Markt kauften wir für Frau Schaaf etwas Salat. In der Mittelstandsküche gab´s Fruchtpudding mit Vanillesauce, sauer, aber lecker. Nach dem Essen gingen wir einkaufen. In der Kaufhalle war so eine nette Verkäuferin, die gab uns unter der Theke eine Seifendose, die wir so schmerzlich entbehrt hatten, und einen Aufnehmer für Frau

 

Schaaf und uns. Ich bin immer so froh, wenn wir Frau Schaaf einen Gefallen tun können. Unsere Kaffeemarken haben wir ihr alle gegeben.

Aber nun noch was anderes: Alles spricht davon, auch die Beamten, daß bald die ersten Transporte nach dem Westen gehen sollen. Und wir haben Aussichten auf einen Passierschein. Wenn das doch wahr wäre! Ach, ich fühle mich so schlecht und danke viel zu wenig. Man nimmt das Gute alles so selbstverständlich hin. Eben war Frau Cottenhahn hier, sie will uns 2 Badeanzüge leihen. Jetzt können wir schwimmen gehen, hurra! Mein Finger ist auch heil. Wie froh bin ich! Nur eins paßt mir nicht: daß wir noch immer in der Weingartenschule verpflegt werden! Das steht uns doch eigentlich nicht zu. Und immer die Lauferei. Aber das Brot, der Aufstrich und die Suppe locken so. Heute zogen wir alle schleckend mit einer Tasse Rübenkraut durch die Straßen von Halle und erklärten allen, die fragten, es sei aufgeweichte Schokolade. Das war ein Spaß!!

Sonntag, 9.6.45       Halle

Gerade komme ich vom Gottesdienst in der Marktkirche zurück, wo ich eine wunderschöne Predigt über theozentrisches und egozentrisches Christentum hörte.

Nun etwas zu den letzten Tagen: Gestern war ein großer Freudentag für uns. Wir bekamen einen Passierschein bis nach Rheydt! Wie es mit uns wird, die wir nach Nordwestdeutschland wollen, weiß ich nicht, mache mir auch keine Sorge drum. Dienstag verlassen wir Halle, was uns allen in dieser kurzen Zeit so lieb geworden ist. Nun haben wir soviel Brot, ich glaube, daß ich´s nicht alle mitkriege, wo wir doch die Fleischbrühe, Zucker und Waschpulver haben. Gestern haben wir doll üppig gelebt. Kartoffeln haben wir auch, Nudeln und jeden Abend Bratkartoffeln, essen massig Brot und Brötchen, Kraut, Wurst und Käse. Aber ich glaube, daß uns das alles zusteht nach dieser langen, mageren Zeit. Gestern war ich mit Marion zum Schwimmen. Das war ein Fest! Für heute

Mittag haben wir zum Nachtisch Kirschen, für die wir gestern mit unserer Kontrollkarte Schlange standen. Kuchen haben wir schon im Café gegessen. Nun noch etwas zu unserem Nachtlager: Das Bett hier ist ja sehr schön, aber zu zweien kollert man in der Mitte immer so zusammen. Dem haben wir so abgeholfen: Im Schrank liegt ein Federbett, das legen wir auf die Erde, nehmen ein Kissen und unsere Decken und haben das idyllischste Nachtlager. Jede Nacht wird abgewechselt. Hoffentlich merken Schaafs das nicht, es wäre doch peinlich!

Mittags: Ha, das war ein Festessen! Sonntags kann man nicht in der Mittelstandsküche essen. Wir kauften uns Gehacktes und aßen heute Mittag Salzkartoffeln mit Bällerchen. Frau Schaaf stiftete Salat, Sauerkraut, Sauce und Schokoladenpudding!!! Hinterher noch Kirschen! Ich bin so satt! Ob das alles Vorgeschmack auf zu Hause war??? Vorgestern waren wir im Dom zu einem Dankgottesdienst zur Befreiung Dr. Niemöllers aus dem K.Z.. Es war sehr voll, aber ich war enttäuscht, es war so unfeierlich und zerrissen, hatte was anderes erwartet.

Nordhausen           Dienstag, 11.6.45

Immer näher der Heimat zu! So jubelt es in mir. Heute hatten wir aber auch Glück. Der Abschied von Halle war nicht so ganz "ohne", Schaafs waren so lieb. Gestern haben wir noch das Schloß Giebichenstein an der Saale besichtigt, in dem eine Kunstgewerbeschule ist. Bei Frau Langbein Abschied genommen, wo alles in größter Aufregung ist, weil die Russen nun doch kommen. Die gute Frau Müller schenkte uns noch Plätzchen. Abends kramten und packten wir noch bis 11 Uhr. Heute morgen ist Frau Schaaf mit uns aufgestanden und machte uns Kaffee. Dann kurzer und schmerzloser Abschied, 5.30 Uhr Treffpunkt am Roten Turm, Markt, dann Abmarsch. Die Amerikaner verziehen sich auch nach

 

Westen, um den Russen Platz zu machen. Wir marschierten schnell nach Angersdorf. Unser Gepäck ist durch die Versorgung mit Brot etc. schwer geworden. In Angersdorf kriegten wir einen Zug, der uns bis Sangerhausen brachte. Eine Unmenge von zurückkehrenden Rheinländern mit Riesengepäck fuhren mit. In Sangerhausen umgesteigen in einen fensterlosen Zug, der uns bis hier brachte. Hu, wie zog der Wind dadurch. Regnen tat es natürlich auch wieder. Nun sitzen wir hier in einer Wirtschaft, haben Fleischbrühe und nach Jauche stinkendes Bier getrunken, Brötchen gegessen und für die Reise neu geschmiert. Frl. Nolte, deren Mutter hier in der Nähe wohnt, hat jemand einen Brief an sie gegeben, weil sie nach Essen zu ihrem Vater will. Ich frage mich nur, wie ich mit Irmgard weiterkommen soll. Ob wir einen neuen Passierschein brauchen? Wenn wir in Kassel sind, ist´s ja nicht mehr sooo schrecklich weit!!! (Ich kriege zuviel!) Marion hat viel Beschwerden mit offenen Füßen. Heute habe ich mal wieder den Humor der Kölner bewundert, wenn sie auch oft frech sind. Aber lieber offen heraus als so verschlossen.

Deutschland liegt ja ganz furchtbar am Boden, wir kommen sicher nie mehr hoch. Man sieht es schon am Bahnwesen usw.

Wie dankbar bin ich, daß Gott uns schon wieder so weit geholfen hat.

Donnerstag, 14.6.55 [richtig: 45]           Auf freier Strecke vor Kreiensen

Nun ist die große Trennung von den anderen vollzogen. Irmgard und ich sind alleine auf die Walze - und schon so nahe der Heimat! Doch unsere Geduld wird immer wieder auf die Probe gestellt! Aber auf Tage kommt´s mir nicht mehr an, wenn wir weiter so große Strecken vorankommen! - In Nordhausen standen wir bald 4 Std. auf dem Bahnhof, nachdem wir ein bißchen durch die dreckige, von K.Z.-Leuten besiedelte und zerstörte Stadt gegangen waren. Gegenüber auf dem Bahnsteig stand ein

Zug mit Amis, die Leckereien in die Menge warfen, aber mit was für einer Gebärde!! Endlich kam der Zug, der uns nach Beuren brachte. Oh, diese Fülle! Marion wäre fast nicht mitgekommen. Meinen Mantelgürtel büßte ich bei dem Gequetsche ein. In Beuren sollte es am nächsten Morgen weitergehen. Wir gingen mit den anderen Leuten in ein Massenquartier (großer Saal), wo wir auf Stroh süß schliefen, ich dicht neben einem wildfremden Mann. Aber am nächsten Morgen wartete alles vergeblich, wir gingen einfach zu Fuß 10 km bis Heiligenstadt, immer durch den herrlichen Südharz. Es war zu schön, auch so angenehmes Wanderwetter. Heiligenstadt hat uns allen sehr gut gefallen, sauber, nett und unzerstört. Wir wurden mit Glockenläuten empfangen, gutes Zeichen! Am Bahnhof kriegten wir sofort einen Zug, der uns über Göttingen nach Hannoversch-Münden brachte. - Aber erst muß ich noch von Frl. Dr. Trillings Pech berichten: Mit uns ist von Halle ein Herr Schäffgen, Bekannter von Frl. Dr., gefahren. Er war mit dem Rad nach Heiligenstadt vorgefahren, um sich nach dem Zug zu erkundigen. Er hatte Frl. Dr. Trillings Tasche am Rad und - wir haben ihn nicht wiedergesehen. Verpaßt! Also ist die Tasche mit Proviant und Mantel fort! Armes Frl. Doktor!

In Göttingen wäre ich sooo gerne ausgestiegen, denn dort stand ein Zug nach Hannover. Aber wir müssen uns ja der Gemeinschaft anpassen. Also, weiter nach Hann. Münden. Dort ging dann alles Ruck-Zuck: Kurze Besprechung mit den Lehrern, Abschied nur von Maria und Marion u. Frl. Nolte. Zurück in den Zug, qualvolle Minuten des Wartens auf Irmgard, die schon so schnell vom Bahnsteig weg war. Dann zurück nach Göttingen. Hier auf den neu zusammengestellten Zug nach Hannover

 

5 Std. gewartet, Güterwagen. Der fuhr uns bis kurz vor Kreiensen und blieb da stehen und steht noch jetzt hier. Das war eine Nacht!!

Wir waren in einem Waggon, voll von Kölnern mit ewig quäkenden Kindern, ordinären Frauen, die eine Zigarette nach der anderen qualmten.

Ich schlief auf einer kleinen Heringstonne, meine Batzen kann ich aber jetzt fühlen!!!

Nun sind lauter Hamburger in unserem Wagen. Die nach dem Westen wollen, mußten nach vorne gehen. Jung, bald sollen wir in Hannover sein, ich werde verrückt!!!

Donnerstag, 21.6.45         Uchte

So, nun muß ich doch noch einen Schlußstrich unter diesen "Roman" ziehen. Ja, ich bin in Uchte daheim, bei Mutter. Wenn ich den ganzen Verlauf der Dinge nochmal überdenke, könnte ich vor Freude einen Luftsprung nach dem anderen machen.

Bald, nachdem ich das letzte geschrieben hatte, kam ein Güterzug aus Göttingen. Die meisten waren des Wortes müde. So auch wir. Wir schwangen uns auf die offenen Wagen und machten eine herrliche Fahrt bis nach Banteln. Dort wieder gewartet bis 19 Uhr. In einer Wirtschaft gegessen. Dann auf den Puffern eines überfüllten Zuges nach Hannover gefahren, zeitweise durch den Regen. Ein netter Soldat nahm sich unserer an und half uns treu, auch in Hannvoer, wo wir abends spät ankamen, in den Bunker gingen, um auf der feuchten Erde zu schlafen. Morgens um 4.40 Uhr ging ein Zug nach Bremen, ein Engländer zeigte uns eigens einen schönen, leeren Wagen. Wir hatten so ein böses Gewissen ohne Passierschein und Fahrkarte. Es klappte aber alles. In Nienburg schlug mir das Herz so hoch. Ich kannte die zerstörte Stadt erst nicht wieder. Durch den herrlichen Sommermorgen marschierten wir dann rüstig in Richtung Uchte. In Liebenau erste Rast mit Kaffee.

Viele Engländer und Schotten. Ach, wie schön war der Weg, wir ahnten nichts von etwa auflauernden Polen etc.. Kurz vor Steyerberg krachte mir der Riemen vom Rucksack. Mühsam trug ich ihn bis zu Jonas hin. Hier fanden wir liebevolle Aufnahme, erste Heimatluft!!! Leckeres Essen. Jonas wohnen bei Amts, sie mußten ihr Haus in Polen räumen. Noch immer heimliche Nazis, tiefe Zerknirschung. Onkel Georg wollte für uns einen Wagen besorgen, der aber nicht kam. Wir schliefen noch, tranken Kaffee, spielten Klavier und aßen Milchsuppe zu Abend. Wir sollten dort schlafen, aber das konnte ich nicht aushalten so dicht vor der Heimat. Also zu Fuß los, immer der Bahnlinie nach. Oh, wie anders wurde es mir, als Uchte in Sicht kam! Die Worte über das Wiedersehen möchte ich mir sparen. Ich kann nur sagen, daß das der seligste Augenblick meines Lebens war, als ich in Mutters, Theas, Pauls und Hermanns Armen lag.

Nun danket alle Gott
mit Herzen, Mund und Händen,
der große Dinge tut
an uns und allen Enden.

 

Stationen der abenteuerlichen Fahrt durch Deutschland:

Jöhstadt / Krs. Annaberg (Erzgebirge)
Johanngeorgenstadt
Aue
Thalheim
Cossen
Burgstädt
Rositz / Altenburg
Kriebitsch
Zeitz
Merseburg
Halle
Nordhausen
Göttingen
Kreiensen
Nienburg
Steyerberg
Uchte

Oberschule für Mädchen Rheydt
evakuiert nach Jöhstadt / Krs. Annaberg

Lehrer:

Frl. Oberthür
Frl. Götte
Frl. Weyer
Frl. Nolte
Frl. Dr. Trilling
Herr Dr. Euing (Kaplan)
Herr Denzel

Liesel = BDM – Lagerführerin
Gerda und Johanna = DRK – Schwestern
Herr und Frau Scharschmidt = Herbergseltern