Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 21. Dezember 1940

Godesberg, den 21.12.40

Mein lieber, liebster Mann!

Das wird nun der Weihnachtsbrief, und ich bin dazu jetzt in ganz froher Stimmung, weil ich vor zehn Minuten Deinen ersten langen Brief aus Bergen bekommen habe. Gestern abend, als ich schreiben wollte, war ich genauso ausgebrannt wie Du und bin deshalb lieber ins Bett gegangen. Und ich kann noch nicht die Hoffnung aufgeben, dass Du auf einmal dastehst, und wenn es auch nach Weihnachten ist.

Draußen ist glitzernde Kälte und dicker Schnee. Dazu scheint die Sonne. Anneliese putzt und putzt und ist heute leicht gereizt, weil die Kinder in ihrer unnützen Art das gerade Geputzte wieder unordentlich machen. Heute nachmittag muss ich nun nochmals in die Stadt, um noch einige Sachen zu besorgen und auch noch etwas Tannen. Morgen nachmittag ist um drei Uhr dann die Weihnachtsfeier im Kindergarten und um fünf Uhr im Kindergottesdienst. Und dann ist ja beinahe Weihnachten. Morgen abend um acht Uhr kommt Hansi. Und der 24. geht dann nach altem Ritus. Morgens wird noch in der Küche gebacken und gekocht. Den Speisezettel sollst Du auch wissen, damit Du ganz bei uns bist.

Am Weihnachtsabend gibt es diesmal Kalbsragout mit Wein (Fisch ist keiner zu haben und außerdem sind in der Weihnachtswoche für jede Person nun 62,5 Gr. Butter bewilligt).

Sonntags oder vielmehr am 1. Feiertag haben wir eine mit Äpfeln gefüllte Schweinebrust statt Gänsebraten, vorher eine schöne Suppe aus einer der Büchsen, die Du noch gekauft hattest und zum Nachtisch einen schönen Creme. Und am 2. Feiertag gibt es Roastbeef mit Leipziger Allerlei in Majonnaise und hinterher Pfirsiche.

Um ½ 6 Uhr ist die Bescherung und gegen ½ 8 wird zu Abend gegessen. So, jetzt kannst Du wenigstens in Gedanken bei uns sein.

Und abends, wenn alle in Bett sind, setze ich mich noch eine kleine Zeit mit einer Kerze an den Ofen und erzähle mit Dir. War das nicht immer noch das Schönste am ganzen Abend? Diese kleine ruhige Stunde zum Schluss? Voriges Jahr haben wir einen Bocksbeutel getrunken. Und wie werde ich diesmal die Extrafeier für mich vermissen, nachdem der erste große Trubel vorbei war.

Helga kommt gerade herauf und bringt mir ihren Brief für Dich. Ist er nicht süß? Ich habe ihn nicht diktiert und nicht dabei geholfen, denn ich finde solch einen Brief viel ursprünglicher als einen von den Grossen verfassten und beaufsichtigten. Schön werden die Briefe später von selber. Sie hat sich auch sehr mit abgemüht, sie wollte einen sehr langen Brief schreiben, aber der Widerstand der Buchstaben ist noch zu groß.

Ach, Pappi, es kommt mir noch so furchtbar unwirklich vor, dass ich Dir zu Weihnachten einen Brief schreiben soll, und deshalb schweife ich zwischendurch mit meinen Gedanken immer vom Brief

ab und stelle mir vor, Du kämest an einem der nächsten Abende zur Tür herein, denn Du hast ja den Schlüssel, oder Du ständest sogar am Heiligen Abend plötzlich da. Ach Gott, wie würden wir dann feiern.

Und hast Du nicht einen besonderen Wunsch, den ich Dir erfüllen kann? Denn dass Du zu Weihnachten nur einen Brief haben sollst, ist nicht schön. Und den für Dich gerichteten Tisch muss ich Dir jetzt erzählen.

Also, zuerst das Fliegerhemd. Ich habe es noch in Bonn gefunden, aber Du bekommst es von der Mutter geschenkt. Dann habe ich ein schönes altes Ölbild, ungefähr 120 bis l40 Jahre alt für unser Biedermeierzimmer. Es ist sehr gut gemalt und stellt eine romantische Landschaft mit Felsen und einer Kapelle und einem weiten Ausblick ins Land dar. Vorne links geht ein Bauer mit seinem Kind. Oges hat einen sehr schönen Rahmen um das Bild gemacht und war ganz begeistert. Zuerst nicht, denn ich habe das Bild auf unserem Speicher in der Wilhelmstraße entdeckt, wie ich die Puppenzimmer holte, und es sah dementsprechend aus. Es hatte keinen Keilrahmen mehr, vom Bild selber war kaum etwas zu sehen, so nachgedunkelt war es, und geknickt war es auch. Es stammt aus unserer Familie und hat die letzten 80 Jahre bestimmt auf Speichern zugebracht, denn ich erinnerte mich, es als Kind von acht Jahren in Köln schon auf dem Boden entdeckt zu haben und habe dann nie wieder dran gedacht. Das ist also die Hauptsache und mein ganzer Stolz.

Nun bekommst Du noch das Buch 'Glanz und Elend Südamerikas' und zwei Bände 'Deutscher Geist', eine Sammlung essayistischer Aufsätze aus zwei Jahrhunderten. Dann habe ich eine Flasche echten Cinzano bekommen, den es ja so gut wie nicht mehr gibt, und eine Flasche Kölnisches Wasser und Zigaretten 'Güldenring'. Aber das Bild ist die Hauptsache und mein ganzer Stolz.

Helga sitzt neben mir und bringt mich vom Thema ab. Sie philosophiert über den Krieg und schimpft auf die Engländer und fragt, ob wir dort auch die Leute tot werfen. Da meinte sie, wer von den beiden in den Augen vom lieben Gott der Frechste wäre, denn wenn wir alle beide, die Deutschen und die Engländer, Bomben werfen, könnten wir unten nicht ent-scheiden, wer der Liebere wäre.

Ich habe mir auch etwas geschenkt. Zuerst Deinen Mokkalöffel und die Strümpfe, dann den neuen Roman von Fallada 'Der ungeliebte Mann' und den Kompottlöffel, der voriges Jahr bei Schumanns verloren ging, und dieses Briefpapier, das ich schon heute Dir zu Ehren anbreche, weil ich den Weihnachtsbrief ja nicht auf hässlichem Papier schreiben wollte.

Und damit Du Dir alles genau vorstellen kannst! Ich werde am Weihnachtsabend den gelben Kasack anhaben mit Deinem Schmuck. Der Baum wird wieder im Biedermeierzimmer stehen und vor dem Bücherregal stehen im Glaskrug Edeltannenzweige mit dicken Tannenzapfen und Sternchen.

Ach, Harald, und wie wird das nächste Weihnachtsfest? Das werden wir doch bestimmt zu-sammen feiern. Aber was wird noch alles dazwischen liegen.

Deine täglichen Briefe habe ich genau so nötig wie Du meine, denn

auch für mich ist der Tag ein verlorener, an dem sie nicht kommen – und ich habe sofort das Gefühl, als seiest Du selber da und könntest mir helfen. Ach, Harald, ich brauche Dich so nötig zu meinem Leben. Deine Liebe und Dein Umsorgen. Mit Dir kann ich alles.

Helga sitzt immer noch neben mir und will nicht weggehen. Ich hänge sehr an meinen Kindern und hoffe auch, dass ich sie richtig erziehe, wenn Omi Endemann mir auch jegliche Pädagogik vor kurzem abgesprochen hat. Aber sie gehorchen mir alle freiwillig und mit einem kurzen Wort (meistens), während das bei den Omis längst nicht immer der Fall ist.

Heidi sagt morgen im Kindergarten ein Gedicht auf. Es hat schwer gehalten, denn sie lernt Gedichte nicht leicht, und ich habe es darum zu Hause auch aufgesteckt. Sie behält wohl den Sinn des Gedichtes, sagt aber ohne Reim vollkommen andere Sätze.

Eben haben wir zu dritt am Fenster gestanden und aufgepasst, ob uns die Paketpost etwas bringen würde, aber nein. Das Paket mit Kaffee und Puppenherd ist noch unterwegs.

Du fragst nach Jürgen. Er wird sehr ungezogen. Ab sechs Uhr brüllt er das Haus zusammen, und dabei fehlt ihm nichts. In seinem Essen ist er sehr wählerisch und verweigert beharrlich, was ihm nicht schmeckt. Sitzen will er aber noch nicht, der Bengel. Dabei ist er so groß, dass er im Kinderwagen etwas schräg liegen muss, weil er oben und unten anstößt.

-- Immer wieder ist es mir unwahrscheinlich, dass ich Dich Weihnachten nicht bei mir habe, und so viele Urlauber laufen hier herum. Und dass überhaupt unser Zusammensein vielleicht noch lange immer nur ein paar kurze Tage betragen wird. Aber ich sage mir auch immer wieder wie Du, dass es vielen Tausenden so geht, und wir haben in diesem Krieg wenigstens noch ein Jahr für uns gehabt, während Frau Schilling schon fast anderthalb Jahre von ihrem Mann getrennt ist. Und auch Frau von Salvini.

Aber ich bin immer bei Dir, das kann ich getrost sagen, denn wenn ich mal keine Zeit habe, länger an Dich zu denken, im Unterbewusstsein vergesse ich Dich keinen Augenblick.

Ich wünsche Dir ein schönes Weihnachtsfest, oder vielmehr am Weihnachtsfest schöne Stunden, denn das Fest selber wird bei Euch ja nicht sehr schön werden. Ich schreibe Dir wieder, sobald ich kann. Jetzt werde ich an allen Ecken und Enden verlangt, denn wir haben ja noch nicht den 24. sondern erst den 21. Und dazu Samstag

Viele liebe Küsse. Du bekommst viele Küsse auf Deinen Mund und auf Deine Augen (ich nehme dazu Deine Brille ab. Weißt Du wie wir das früher oft taten? Das hatten wir auch vergessen.

Wieviel schönes haben wir doch gemeinsam erlebt. Weißt Du noch, wie wir durch den Schnee nach Schönwaldhaus gingen? – Ich wollte Dir eben ein paar Blätter aus einem der alten Tagebücher mit unseren gemeinsamen Erinnerung beilegen, aber ich habe es lieber gelassen. Sie sind so überschwänglich, daß ich mich vor mir selbst genierte.

Ich habe gleich noch vor, Weihnachtsbriefe zu schreiben. Pützens bekommen auch einen Brief, aber Deine Feldpostnummer schreibe ich nicht. Engels riet mir ab.

Lieber, lieber Harald.

Deine Lotti