Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 25. Dezember 1940

den 25.12.40

Dämmernder Nachmittag und der erste Weihnachtstag. Draußen fängt es wieder leise an zu schneien, der Ofen glüht rot, und ich sitze hier und passe auf die vielen Sprösslinge auf, die augenblicklich sehr ruhig sind. Ach, Liebster, es ist so weihnachtlich hier im Zimmer. Alle vier liegen auf den Teppich und sind für einige Zeit teils mit Malen, teils mit Bilderbüchern beschäftigt. Klaus sagte heute morgen aus tiefster Überzeugung zu mir: „Was bist Du doch für eine liebe Mutti, dass heute Weihnachten ist.“ Ist das nicht niedlich?

Helga hat vorhin auf ihrem neuen Briefpapier aus eigenem Antrieb und ohne Hilfe einen Brief verfasst. Ich lege ihn bei.

Heute morgen kam der Brief, in dem Du von Eurem dortigen Weihnachtsfest erzählst. Warum muss Euch denn das Fest so verdorben werden? Meint man denn, Ihr Soldaten hättet kein Gefühl für ein stimmungsvolles Fest? Und so ein Fest wird doch jeder vermissen, weil er doch von zu Hause, wenn auch manchmal in primitiver Form, so richtig Weihnachten zu feiern gewöhnt ist.

Ich habe mich gefreut, dass Du die Locke doch noch gefunden hast. Aber ein Paket bekommst Du jetzt doch noch, denn wenigstens das Fliegerhemd musst Du haben. Oder holst Du es Dir selbst? Meinst Du wirklich, Du bekommst Urlaub? Man hört manchmal von welchen, die sieben Monate keinen bekommen haben und was ich dann machen soll, weiß ich nicht. Die Sorgen drücken mich immer wieder und ich überlege hin und her. Was soll ich am Ersten alles tun, wenn Du keinen Urlaub bekommst? Jetzt hat mich der Geschäftskrampf doch wieder. Ich höre ganz schnell auf damit und hoffe dabei sehr, dass Du mir etwas richtunggebendes schreibst.

Übrigens, Klaus beschränkt sich mit seinem Nagelkasten durchaus nicht, auf die Korkplatte. Er ging vorhin mit den Nägeln auf die Wand und auf die Möbel los. Und Ursel kommt andauernd mit einem neuen "Prätzen“, dem ich guten Tag sagen muss.

Helga hat ein reizendes rot-blaues Winterdirndl von Tante Hansi an.. Heute morgen waren alle bei Lindes und wurden da noch einmal reichlich beschert. Und Anneliese hat auch für alle Kinder gesorgt, und ich bekomme sogar Küchenhandtücher von ihr. Sie ist überhaupt wie ein altes Faktotum im Hause. Sie hat ihre Sonderheiten (ewig sieht der Unterrock raus), aber sie ist unglaublich treu und ergeben und nur auf unser Wohl bedacht. In der Nacht vor dem Heiligen Abend hat sie noch bis gegen eins im Hause rumgewurschelt. Und dann ist sie am nächsten Morgen schon um sechs wieder aufgestanden und hat in der Kälte den Hausflur eingewachst. Sie will Dir auch einen langen Brief schreiben. Gestern kam die Mu in die Küche, da stand sie abtrocknenderweise und entwarf laut einen Brief an Dich. Sie hat auch so ein weiches Gemüt und musste am Heiligen Abend bei der Bescherung fürchterlich heulen, weil sie mich allein dastehen sah, und das will sie Dir dann auch schreiben. Ist das nicht nett?

Nein, Du müsstes Klaus und Ursel sehen, wie sie beide auf dem blauen Teppich in einem Berg von Bauklötzen, Autos und Pferdchen sitzen. Übrigens ist die Stimmung ganz kurz vor Sturm. Denn Ursel fängt mal wieder an, alles abzunehmen. Ursel hat ein rotes Kleidchen an und Klaus seinen seidenblauen Anzug. Und dahinter steht der Weihnachtsbaum.

Und das Weihnachtsessen, die materielle Seite des Ganzen, ist genau wie früher. Wir haben für Heringssalat gesorgt, und eine schöne Sülze ist auch da. Und Wurst und Käse und Toast auf dem Frühstückstisch. Und von Biederbick bekam ich gestern sogar noch vier Apfelsinen.

Immer wieder denke ich an Deinen Urlaub. Könnte er vielleicht zu Sylvester kommen? Und wie denkt man sich das, wenn Euch von der Luftwaffe grundsätzlich kein Arbeitsurlaub be-willigt wird, wie es heißt? Ich wüsste ja überhaupt nicht mehr weiter, und das geht doch auch nicht.

Ich hoffe so sehr, dass Du mir wenigstens mit Deinem Rat hilfst, oder darf ich Dir damit nicht kommen? Und kannst Du nicht von dort die Eingabe wegen Wertminderung wenigstens schon im Allgemeinen machen und dabei schreiben, dass Du die Unterlagen nachreichst, damit der Termin nicht verpasst wird. Donnerwetter, jetzt bin ich schon wieder im Geschäft! Aber Du weißt ja jetzt, was in meinem Herzen grummelt, und Du wirst mir antworten, und bis dahin werde ich mich nur an Weihnachten freuen.

Jetzt muss ich rüber ins Weihnachtszimmer. Die Vier interessieren sich plötzlich für den Baum, und das wird mir unheimlich.

Der Himmel wird immer grauer, und die Dämmerung nimmt immer mehr zu. Es ist so heimelig, und ich habe Dich lieb.

Ich habe die beiden Bildchen der Ahnen vor mir. Die Urgroßmutter Fischer hat aber Haare auf den Zähnen gehabt. Es ist ein Bild einer alten schwäbischen Bäuerin. Großvater Hechtle als junger Mann ist der ausgesprochene Typus eines guten, schöngeistigen Mannes. Aber Humor ist auch etwas in dem Gesicht. Ein leiser Humor, wie ihn Fritz Hechtle hat.

Du wirst doch jetzt Post von mir haben. Ich schreibe Dir fast jeden Tag. Alle im Haus lachen schon, weil ich immer mit der Schreibmaschine auf den Knien dasitze. Links sitzt Helga und rechts Anneliese. Beide schreiben ihre Briefe an Dich.

Viele Küsse, Deine Lotti.