Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 14. März 1941

den 14.3.41

Liebster!

Eben kommt Dein Brief. Ich hatte mich so darauf gefreut, und nun bin ich traurig. Das Gefühl, dass Dein Urlaub nicht so schön war, wie Du es Dir gedacht hast, ist scheußlich für mich.

Aber es war ja auch so: Du kamst abgearbeitet an und hattest dann statt Erholung nur wieder viele Arbeit, die ja nun auch geschafft werden musste. (Übrigens geht es Will Schneider von Gutenberg genauso. Er hat jetzt 10 Tage Urlaub bekommen und kommt vor lauter liegengebliebenen Sachen, die auf ihn warten mussten, zu nichts. Seine Kinder fragen ihn jeden Tag, wann er denn nun mit ihnen ins Siebengebirge ginge, und nun musste er fort und ist nicht dort gewesen.)

Ich möchte Dich jetzt in den Arm nehmen und küssen, damit Du nicht mehr traurig und enttäuscht bist. Ich komme mir richtig schuldig an dem missratenen Urlaub vor. Missraten ist nicht der richtige Ausdruck, es war bloß keine Zeit für Schönes.

Ich muss jetzt den Jürgen baden, vielleicht macht der mich fröhlicher, und ich kann Dir nachher wieder anderes erzählen.

Eben bin ich fertig geworden und will nun schnell weiterschreiben, damit der Brief um sechs im Kasten ist. Jürgen hat seinen ersten Spinatbrei mit Stumpf und Stiel aufgefuttert, Herr Dürholt war wieder mal da (Schwamm drüber), und der Kuchen für das Kränzchen ist auch im Ofen, ein Pflaumenkuchen. Herr Wittkuhn streicht schon das Clo und die Sonne schein.

Deine große Fotografie steht auf meinem Nachtisch, und abends sehe ich sie mir immer lange an. Gestern abend beim Kramen habe ich das alte Bildchen von mir gefunden. Ich glaube, es ist im Jahr unserer Verlobung gemacht worden. Vielleicht macht es Dir Spaß.

Ich dachte gestern abend noch an viel Vergangenes, an ganz weit Zurückliegendes. Mir fiel einer unserer ersten Spaziergänge an einem Winternachmittag ein und wie Du mich zum Schluss an unserer Gartentüre fragtest, ob wir uns nicht 'Du' nennen sollten.

Kannst Du Dir überhaupt vorstellen, dass wir uns jemals 'Sie' genannt haben? In meinem Backfischtagebuch steht auch noch das Datum, und Du hattest immer eine Tüte saure Bon-bons mit.

An vieles dachte ich und auch an die hübschen, hellen Zimmer im Krankenhaus, wenn immer wieder so ein kleines

Bündel neben mir lag, und Du kamst morgens und freutest Dich. Punkt mit allem, sonst kommt der Brief wirklich nicht in den Kasten.
Deine Lotti

Sonntagabend [Transkription nicht vollständig]

Mein lieber, lieber Mann!

Nun ist Sonntagabend und großer Stopfzirkus, an dem ich mich bis jetzt beteiligt habe. Aber nun möchte ich vor dem Schlafengehen doch etwas anderes haben. An solchem Regentag vermisse ich Dich noch mehr wie sonst, allein schon, weil ich den Tag über bei den zwei alten Omis gesessen habe. Und weil ich mir noch ein klein bisschen zugutetun will, schreibe ich.

Gegen sechs hörte der Regen auf, und ich bin mit Helga und Heidi am Rhein entlang gegangen. Liebe Lenni kam mir am Rhein mit den drei kleinen Steinchen (=Kindern Stein) entgegen, weil sie die verreiste Anita über Sonntag vertritt.

Liebe Lenni hat an Fett zugenommen, was ich verloren habe, und das gereicht ihrer Figur nicht zum Vorteil. Jetzt renne ich viel, und sie sitzt den ganzen Tag an der Schreibmaschine.

Wobei ich Dir sagen will, Pappi, wenn Du wieder da bist, musst Du es so einrichten, dass ich nicht nur den ganzen Tag im Büro sitze. Ich habe mich so an das Laufen gewöhnt, dass ich es keinen Tag mehr entbehren könnte.

Ich möchte am liebsten über alle Berge vor Lebensfreude und sitze nun hier wie festgenagelt und habe zwei Themen zur Auswahl: Das Haus Wilhelmstraße soll (von der Mu) verkauft werden (ein Thema, das vor etwa zehn Tagen erneut aufs Tapet kam und heftig besprochen wird) oder die Fehler der Dienstmädchen.

Und das ist auch der Grund, warum ich meistens kurz nach neun im Bett verschwinde mit einem Buch. Ach, Pappi, wie lange werden wir uns wohl noch Briefe schreiben müssen? Ob noch im Herbst oder noch im nächsten Jahr? Aber Dir jeden Tag einen Brief zu schreiben, ist mir Bedürfnis, wenn ich auch nicht immer sehr viel Interessantes weiß, ich muss einmal an Tag mit der Schreibmaschine auf den Knien dasitzen und habe dann das Gefühl, Dir näher zu sein.

Ich möchte, möchte, möchte alles mögliche. Die Tage rasen auch bloß so dahin, und abends liege ich im Bett und wundere mich, dass wieder ein Tag für immer weg ist. Mein Gefühl für die Zeit und ihre Unwiederbringlichkeit wird immer stärker, aber dazu auch die Empfindung, dass ich noch jung bin und eigentlich jetzt, nachdem die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, Zeit für mich bekomme.

Und das Leben rast doch, wenn man bedenkt, dass Deine Rückkehr von Graz (wo Harald einige Semester studierte) nach Godesberg schon 16 Jahre her

ist und ich damals 19 Jahre war und zwischen Helgas jetzigem Alter und der Zeit, da sie neunzehn ist, nur 11 Jahre liegen. Es bleibt einem nicht viel Zeit. Und wie unendlich lange erschien uns das Leben damals, als wir 20 waren. Eine Masse Zeit war für uns da. Es ist genau, wie wenn wir eine besondere große Provision verdient hatten. War sie in Aussicht, war es unendlich viel Geld, war sie da, war sie verpufft in tausend Rechnungen, und man konnte froh sein, wenn man ein bisschen übrig behielt, um etwas besonders Nettes damit anzufangen.

Ich fange an zu philosophieren, und dabei hat der Deutschlandsender eben abgeschaltet   (= bevorstehende Luftangriffe). Das bringt einen in die Wirklichkeit zurück.  

Omi Hechtle jagt durchs Haus und sucht ihre angebrochene Weinflasche vom Geburtstags-kränzchen, auf die sie vergessen hatte, den Stopfen wieder draufzutun. Ich glaube, die wird gleich getrunken. Vielleicht hilft das meiner nicht vorhandenen Müdigkeit nach. Vorläufig gute Nacht, Pappi, denn jetzt ist der Rotwein gefunden.

Montag

Auf allen Dächern liegt dünner Schnee, aber seit ein paar Minuten kommt die Sonne durch. Warum will es denn nicht Frühling werden. Ich werde erst wieder ein richtiger Mensch, wenn ich mich auf dem Balkon habe tüchtig durchbraten lassen. (…)