Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 25. März 1941

den 25.3.41

Liebster Harald,

Gestern, waren Ilse Düren mit Günther da. Sie kam mit der üblichen Verspätung einer halben Stunde, die man bei ihr kennt, wenn Theo nicht da ist. Ich glaube, sich dann express zu verspäten, ist eine wahre Erholung für sie, denn als wir feststellten, wie gut sie aussehe, sagte sie, und dann können wir auch essen, wann wir wollen, und es braucht nicht alles auf die Minute zu sein.

Günther ist ein neurotisch lebhaftes Kind. Er hat einen Affen an Heidi gefressen und umwarb sie mit solcher Zärtlichkeit, Heftigkeit und Heidis Widerstand brechen wollend, dass ich mir jetzt vorstellen kann, wie der grosse Theo bei seinen Eroberungen vorgegangen ist. Also steckt auch solch eine Art schon im kleinen Kind. Heidi war vollkommen verdattert und sah mich bloß immer hilfesuchend an. Ich musste Ilse dann noch ein Stück begleiten, weil Günther die Heidi einfach nicht hergeben wollte und sie auch den ganzen Weg nicht losließ. Auf dem Rückweg schob sie dann ganz schüchtern ihr Händchen in meine Hand und meinte: Komisch, dass alle Leute mich jetzt immer gern haben. Benehme ich mich jetzt richtig? Mache ich auch nichts mehr falsch? Ich konnte das kleine Persönchen nur in den Arm nehmen und liebhalten.

Gestern war bei Liebe Lenni auch eine Freundin von ihr, Fotografin, Junggesellentyp, braungebrannt mit schwarzen Haaren, intellektuell, die sich sehr gerne mit Helga unterhielt und an ihren Antworten Spaß hatte. Sie fragte sie über die Schule aus und ob sie auch schon mal schwatze. Helga nickte. Was dann die Lehrerin mache? Ja, die geschwatzt hatten, müssten sich melden. Ob sie sich auch melden würde? Aber sicher, meinte Helga, denn man dürfe doch nicht lügen. Und als sie fragte: Lügst Du nicht? sah Helga mich einen Moment ratsuchend an und sagte dann: Ich glaube nicht. Es war so süß, denn man merkte wie sie in diesem Augenblick mit der Antwort zögerte, um da nicht durch eine Vergesslichkeit zu lügen. Ich freue mich, dass ich damals durch die eine kurze und nachdrückliche Lehre dem kinde das Lügen im Grunde abgewohnt habe, denn Helga steckt heute lieber eine starke Strafe ein als zu lügen.

Dann fragte die Dame weiter, ob sie sich denn ärgere, wenn sie eine Zeitlang stehen müsse (das ist die Strafe für die Kinder, die geschwatzt haben). Helga meinte, nein, sie wäre sehr froh darüber, denn vom Stillsitzen täten ihr immer die Kniekehlen weh. Ob sie schon mal nachgesessen hätte? Ja. Aber dann hätte sie sich doch geärgert? Nein, meinte Helga, denn dadurch hätte sie ja dreimal Pause gehabt. Worauf die Dame meinte, sie packe das Leben richtig an und hole sich auch aus Unangenehmem das Schöne heraus.

Da ich schon mal bei den Kindern bin, bekommst Du Pappi noch mehr davon zu hören. Klaus hat dem Jürgen eine lange Brotkruste in den Hals gesteckt, worauf Jürgen sich gründlich übergeben musste. Als ich vorige Woche mit Klaus bei Dürens war, um Ilse zum Kaffee einzuladen, zeigte Günther ein handgroßes, weißes Bärchen vor. Gestern, als die Kaffeegäste erwartet wurden, stieg Klaus bedächtigen Schritts ins Kinderzimmer, kramte im Spielzeugschrank und holte ein ebenso kleines weißes Hündchen. Das legte er dann wortlos neben seine Kaffeetasse und wartete die Reaktion von Günther ab, die natürlich nicht ausblieb und Günthers Wesen entsprechend mit Indianertänzen vor sich ging.

Auch Klaus ist jetzt an der Abtrockenaktion nach Tisch beteiligt. Er schiebt den Teewagen in die Küche und fordert uns mit seiner Bärenstimme auf, ihm das Geschirr draufzuräumen.

Die Roller und das Dreirad sind von Honnef überholt und werden heftig benutzt, unter Kämpfen, weil jeder auf dem Gefährt des anderen fahren will.

Die Mieter im Hause Wurzerstrasse haben über eine Woche gebraucht,, ehe sie sich auf die Aufforderung der Zahlung rühren konnten. Es muss doch ein grosser Schreck gewesen sein. Heute vormittag lief ein Brief von Vogel ein, wieso und warum. Er fäne die Höhe der Summe doch immerhin merkwürdig und bäte um Aufklärung. (ich hatte in den Briefen das Gesetz angeführt und die Ausrechnungen des Bauamtes. Ich nehme mir nun morgen die rechnungen mitsamt dem Text der Verfügung unter den Arm und besuche sofort alle Drei hintereinander. Dann habe ich das hinter mir und das weitere können sie ja dann mit der Luftschutzpoliezei ausmachen. Auf diesem Wege werde ich Mahnbriefe in der Viktoriastrasse abgeben, denn keiner von denen hält es für nötig, auch nur ein bisschen der angeforderten Summen zu bezahlen. Affen!!

Pappi, verbrenn alles, sei mir nicht böse und schreibe schnell, dass Du mich lieb hast.

Eben war Richard Schubert hier und bedankte sich für den Blumengruß zur Konfirmation. Ich habe ihm vom Weltkrieg und der Besatzungszeit erzählt. Es ist doch komisch, wenn man einen baumlangen Kerl vor sich hat, mit dem man sich wie ein Erwachsener unterhält und der nicht mal mehr an den Umbruch eine Erinnerung hat, weil er da noch zu klein war.

Herr Becker war heute nachmittag auch hier und lässt Dich herzlich grüssen. – Das Urteil Grashoff lege ich Dir bei, weil es Dich bestimmt interessiert.

Warum müsssen wir so weit voneinander sein und können nicht wenigstens am Telefon miteinander sprechen? Nun läuft so ein Brief drei Tage, und bis dahin ist alles immer wieder ganz anders.

Schreibe mir bitte, dass Du mich lieb hast. Ich bin ein Affe.
Deine Lotti