Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 19. Mai 1941

19.5.41

Liebster Mann!

Vor mir stehen Deine schönen Blumen, über die ich mich immer noch freue. Aber Du müsstest da sein. In den letzten Tagen empfinde ich es wieder ganz stark, dieses Gefühl dass Du so weit eg bist. Briefe sind nur ein schwacher Ersatz. Ich moöhte Dich hier haben. Und wenn ich an Dich denke, spüre ich ganz deutlich, wie es ist, wenn ich die Hände um Deinen Kopf lege. Ich fühle ganz deutlich die kurzen Haare im Nacken und Deine Haut im Gesicht, Deine Stirne, Deine Hände. Und dass an Urlaub nicht zu denken ist, ist scheußlich.

Ich habe heute morgen keine große Lust zur Arbeit. Darum habe ich mir diese halbe Stunde genommen, um Dir zu schreiben. Das ist das einzige, was mir Spaß macht. Eben, weil ich diese zärtliche, traurige Stimmung habe. Draußen ist ein warmer, etwas verregneter Tag, ganz anders wie gestern. Der Muttertag war sonnig und warm, und trotzdem habe ich ihn mal wieder strümpfestopfenderweise verbracht. Es ist verflixt. Meine Strümpfe haben nach einem Tag ein Loch, und ich war gestern beim letzten halben Paar angelangt. Da blieb mir denn nichts anderes übrig.

In die unteren Regionen begebe ich mich heute nicht. Als ich vorhin nach Hause kam, war große Auseinandersetzung in der Küche wegen der Strünke des Wirsings. Ich sollte mein Gutachten abgeben, ob sie mitgekocht werden sollten. Ich habe kein Gutachten abgegeben sondern habe mich verdrückt. Ich werde mich hüten. Und nun ist dicke Luft. Es ist doch scheußlich, dass wegen solcher Kleinigkeiten im Hause Explosionsstimmung herrscht. Und wenn ich mich auch aus der Atmosphäre verdrücke, heute mittag bei Tisch wird die ganze Debatte neu aufgewärmt. Deine Mutter kocht sich schon die Stengel und Strünke.

Übrigens ist Dein Vorschlag mit der Änderung der Zimmer sehr gut. An die Lösung hatte ich noch nicht gedacht. So machen wir es. Es ist zwar wahr, dass ich die Umänderung hauptsächlich wegen des vielen Treppenlaufens haben wollte, aber das müsste dann eine endgültige ssein und die würde wieder Geld kosten. Denn dann müssten die unteren Zimmer tapeziert werden. Aber so machen wir es. Wir ernennen das Büro zur Abstellkammer und ziehen ins Esszimmer um. Die Enge war zuletzt, als auch Klaus und Ursel mitaßen, beängstigend. Und später, wenn Du zurückkommst und wenn wir erst sehen, wie sich alles pekuniär entwickelt, dann kann man an grössere Umänderungen denken. Aber ich freue mich auf die Einrichtung des Zimmers.

Gestern habe ich Edith Vogel angerufen. Charlys Feldpostnummer ist 02629. Er hat die Kämpfe in vorderster Linie mitgemacht, ist vier Wochen nicht aus den Kleidern gekommen, hat Granatenhagel erlebt, ist im Stockdunkeln ohne Licht über Gebirgspässe gefahren, hat also den Krieg richtig erlebt. Er ist bis in die Nähe von Athen gekommen, jetzt liegt er in Wien, zuerst sollten sie nach Syrien

kommen, jetzt wird er nach Oppeln verlegt. Edith hofft, dass er Urlaub bekommt. Wer hätte solche Erlebnisse sich für Euch vor zwei Jahren träumen lassen?

Hans Steffen wird auch wieder eingezogen. Ich habe eigentlich vor, wenn Blatzheim das Geld überweist, einen Tag nach Köln zu fahren und auch Steffens zu treffen. Das wäre wenigstens mal wieder ein Tag mit neuen Eindrücken. Meinst Du nicht auch?

Helga ist in der Schule augenblicklich verwaist. Fräulein Bennewitz ist mit einer Schar Kinder für die Dauer des Krieges an die Ostsee gefahren, und nun haben sie jeden Tag einen anderen Lehrer. "Gestern haben wir der Lehrer Krämer gehabt und der Lehrer Homann und der Lehrer Schmidt. Heute kriegen wir et Raaf“. Sie gewöhnt sich eine prächtige kölsche Sprache an. "Et Raaf" steht bei ihnen nicht hoch im Kurs. Sie hat ihnen die Geschichte vom Rotkäppchen erzählt und die Hälfte ausgelassen und zum Schluss die Geschichte mit der vom Wolf und den sieben Geißlein verwechselt.

Ich liege in ständigem Kampf mit Helgas deutscher Aussprache. Und nun muss ich auch noch auf Anneliese einwirken, die das Fräulein Raaf selber gehabt hat. Sie nannten sie in der Burgschule "Dat Soodelöfersch", weil sie immer im Rinnstein entlanglief.

Gestern, als ich im Vorgarten arbeitete, sagte mir Frau Flamme guten Tag. Du kennst ja ihre etwas harte Stimme. "De Minna (Eichenberg} ist ganz weg wegen dem Rudi. Ich sag immer: Siehste, Minna, da haste Dein Goldstück. Un jetzt gehen die Leute an Deinem Haus vorbei und sagen: Da hat dat Schwein jewohnt.“ Frau Flamme hat ja immer Haare auf den Zähnen gehabt und war ihrer Kusine nie sehr grün. Aber das Schönste: Frau Noelle hat Frau Eichenberg einen Kondolenzbesuch gemacht mit schwarzen Handschuhen und in Trauer.

Übrigens bin ich im Fall Hess wieder ganz zuversichtlich. Es könnte ja eine völlig ungeahnte Entwicklung dabei herauskommen und wie wäre es, wenn es ein ganz großer Bluff wäre. Man weiß gar nichts.

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Und nun haben wir wieder Nachmittag, haben Kaffee getrunken und es ist die hübsche, friedliche Stunde zwischen den Mahlzeiten. Ich will gleich daran gehen, das Esszimmer einzuräumen. Die Terrasse werden wir diesen Sommer wohl noch nicht gebrauchen können, denn die Schlingpflanze sieht noch nicht so aus, als ob sie dicht belauben wird. Sie sieht sogar noch nicht aus, als ob sie überhaupt angehen will. Aber Gottfried Beitin hat mich darin beruhigt. Und dann, sobald schönes Wetter ist, will ich die Gartenbank streichen. Krieg bitte keinen Schreck, ich tue es doch. Farbe habe ich schon.

Ich küsse Dich. Deine Lotti.