Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 14. Oktober 1941

 

den 14.10.41

Liebster!

Nun ist es halb zwölf, und ich muss trotzdem zu Dir kommen und mich ein bisschen bei Dir ankuscheln. Ich trinke zur Belebung einen Zwetschgengeist oder für die Bettschwere, wie man will, und habe leise Musik im Radio. Den ersten Alarm haben wir hinter uns, von halb neun bis eben und die dazugehörigen Schrecken ebenfalls. Ein paarmal heulten die Bomben so laut, dass alle Kinder, die ich heute natürlich geweckt hatte, inklusive meiner Wenigkeit starr vor Entsetzen waren. Ich musste den Kindern die Zeit mit dem Bibab vertreiben, der dann für einige Momente sein Schauspiel abbrach. Und trotzdem wollte Helga nichts davon wissen, als ich ihr eine Kinderlandverschickung vorschlug, und Heidi auch nicht: Dann bist Du ja alleine in der Gefahr, meinten sie.

Ich habe aber doch den Eindruck, dass der Engländer jetzt nur die Bevölkerung beunruhigen will. Die Bomben kommen so unregeImäßig und aus verschiedenen Richtungen, und dabei hat er trotz der Dunkelheit noch nicht einmal Leuchtschirme abgeworfen, so dass er sich gar nicht orientieren kann. Aber trotzdem wird das wohl eine Fehlspekulation sein, denn wenn auch für jeden diese Nächte alles andere als ein Vergnügen sind, so nimmt man sie doch mit Selbstverständlichkeit und als dazugehörend hin. Nur für Deine Mutter fürchte ich. Sie war diese Sorte Alarmnächte doch nicht gewohnt, denn als sie abfuhr, gab es sie in dieser Stärke noch nicht, und als sie wiederkam, war ja nichts los. Sie zittert am ganzen Körper, aber das tun wir ja alle, aber dazu stößt sie Heultöne aus, die vom Herzen kommen, wie sie sagt, und das hat die Kinder noch mehr in Angst gejagt wie die Bomben. Ich habe eine Zeitlang richtig Angst um sie gehabt und überlegt, ob ich Dr. Schampel anrufen sollte. Augenblicklich ist sie ganz vergnügt, aber zumuten möchte ich ihr doch nicht jede Nacht diese Aufregung, und ich glaube, sie hat auch gar nichts dagegen, wieder in eine ruhigere Ecke zu verreisen.

Und das, was ich Dir eigentlich in diesem Brief schreiben wollte, kann ich gar nicht richtig ausdrücken, nur empfinden. Es ist bei allem Schrecken der Gedanke an Dich und die Liebe zu Dir, die mir mitten darin das Glück und die Ruhe gibt. Und wie ich mich auf die Zeit freue, in der wir, wenn wir alles heil überstanden haben, und das müssen wir uns schliesslich beide wünschen) zusammen unser gemeinsames Leben wieder aufnehmen.

Aus der Beschäftigung mit den Kunstgeschichtsbüchern war heute doch nichts geworden, weil der Alarm so früh kam. Aber ich habe heute eine kurze Stunde Klavier geübt und wie! Ich spielte aus der ´Schule der Geläufigkeit´. Im Bass tobte Klaus rum, im Diskant Ursel, und am Pedal beschäftigte sich Jürgen. Da die Übungen aber nur die

Geläufigkeit der Finger bezweckten, störten mich diese Disharmonien nicht viel, besonders, weil ich die drei Kleinen beaufsichtigen musste und die Wahl hatte, entweder gar nicht zu üben oder mit den Dreien.

Nun, nach Tisch, wird der Brief fertiggemacht. Heidi schreibt unten (ich habe sie bis eben beaufsichtigt) im Schweiße ihres Angesichts „sch“ auf die Tafel. Helga hilft abtrocknen. Klaus ist trotz des kalten Wetters den ganzen Tag auf der Straße, und Ursel ist hier bei mir und stört goldig. Die beiden Großen sind heute nachmittag bei Krugs zum Geburtstagskaffee geladen.

Der Alarm heute nacht war sozusagen fies. Zwischen vier und sechs kam nochmals eine neue Welle, die in der ganzen Umgebung Bomben warf. Im Haus klirrte immer alles vom Luftdruck. Die Kinder haben aber nichts gemerkt. Sie schliefen schön und sind alle erkältet.

Ich denke, dass heute nachmittag doch wieder Post von Dir kommt. Freitag habe ich die letzte bekommen, und heute ist Dienstag.

Und nun halte ich erst mal einen kurzen, recht schönen Mittagsschlaf, weil ich von heute nacht noch müde hin. Ich habe aber meine drei Töchter im Zimmer. Ob das gelingt? Vorläufig besehen sie sich noch Bilder. Wie lange die Ruhe bleibt, weiß der Himmel. - Die Mu fährt diese Woche nach Berlin zu ihrer Schwester für einige Tage.

Ich habe Dich lieb. Deine Lotti