Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 21. Oktober 1941

den 21.10.41

Lieber Mann!

„Ja, ja, der Chiantiwein" singt eben einer im Radio, und sofort war ich in Hansens Gasthaus bei dem bunten Abend der Wehrmacht in Husum. Ich sah das junge Mädchen im cyklamenfarbigen Abendkleid mit dem großen Mund und dem ausdrucksvollen Gesicht und sah, wie die erste Reihe der Soldaten beim Schunkeln auf die Stühle sprang und kriegte eine schreckliche Sehnsucht nach Husum. Die Husumer Erinnerungen werden richtig kostbar für mich, und man müsste jede belanglose Kleinigkeit aufschreiben, denn sie ist ja keine Belanglosigkeit mehr, alles ist wert des Aufgeschriebenwerdens, damit nichts vergeben wird, finde ich.

Heute regnet es ganz doll. Der Regen rauscht nur so, aber ganz in der Ferne bummert es, und da der Deutschlandsender abgeschaltet hat, ist es ja keine Täuschung. Aber weil trotzdem kein Alarm gegeben wird, gehe ich gleich ins Bett. Ich habe heute eine schreckliche Sehnsucht nach Dir gehabt und fand es ganz unvorstellbar, dass ich vielleicht Monate und Monate warten muss, bis wir uns wiedersehen. Die vierzehn Tage Deiner Abwesenheit kamen mir heute schon wie lange Wochen vor. Seit Samstag bin ich schon in dieser etwas melancholischen Stimmung und habe Dir auch am Samstagabend in Gedanken auch einen Brief geschrieben, aber auf das Papier gelangte er nicht, weil ich so schön drömmelig müde war und ganz allein im Zimmer saß und deshalb in eine melancholisch- behagliche Stimmung reinschlidderte, die mich dann noch um 12 Uhr da fand. Alle Gedanken galten Dir, bis mein Blick auf ein Höschen ohne Gummiband fiel und die Wirklichkeit wieder da war, und mein Kopf registrierte: Gummiband ins Höschen, Kragen ans Kleid, Knopf an die Hose, und dann bin ich aufgesprungen und ins Bett gegangen.

Helga sieht einer eventuellen Operation jetzt mit Spannung entgegen, weil ich ihr die Tage danach lebhaft und geheimnisvoll vorgestellt habe. Ob sie sich dann eine Puppe wünschen dürfe, ob das nicht zu doll sei, so ein Wunsch? Oder ob ich ihr dann meine Lilo schenken wolle, damit ich kein Geld ausgeben brauchte, fragte sie. Aber schreibe Du mir bitte Deine Meinung. Monar meint, dass Drüsenverwachsungen entstehen könnten und dass man heute grundsätzlich für das Vorbeugende sei. Aber ich möchte darin nichts ohne Deine entscheidende Meinung tun.

Da ich nun mal mit den Ärzten dran bin, will ich in der nächsten Zeit mit Heidi doch mal zum Augenarzt gehen. Sie bringt nämlich so unmögliche Buchstaben mit nach Hause mit gezackten Querstrichen und behauptet, Fräulein Rath hätte diese an die Tafel gemalt, dass ich mir nicht klar bin, ob sie nicht doch kurzsichtig ist. Heute hat sie zu Omis lachendem Entsetzen mit den guten Erbsen von Änne auf

der Straße Hänsel und Gretel gespielt.

 

den 22.10.41

Eben habe ich wieder das alte Notizheft Deines Großvaters Endemann gehabt. Würdest Du bitte so lieb sein und an den Vetter E. in Göttingen schreiben wegen der Göttinger Aufzeichnungen der Endemanns? Wenn er eines Tages tot ist, bekommen wir sie nicht mehr, und ich möchte sie so gerne für die Kinder später haben.

Ich lege Dir eine Kuchenkarte bei, damit Du, wenn Du mal ausgehst, Kuchen essen kannst. Brauchst Du sie nicht, kannst Du sie ja vor Ablauf der Gültigkeit wieder zurückschicken. Komischerweise ist heute auch wieder keine Post von Dir gekommen, also vier Tage nicht. Warten ist fies. Deine Lotti.