Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 14. November 1941

den 14.11.41

Lieber Mann!

Was soll ich heute Besseres tun als Dir zu schreiben, denn ich habe große Lust, mich mit jemanden zu unterhalten. Heute nachmittag hatte ich mein Kränzchen hier bei noch echtem Tee, den schönen chinesischen Tassen, dem Samowar, und durch den schön verlaufenen Nachmittag bin ich so angeregt, dass ich die größte Lust habe, heute abend weiter zu feiern. Ich habe dazu auch mein schönes neues Kleid an. Es ist schwarz, hochgeschlossen und hat schwarze Fledermausärmel aus Samt. In die Mitte ist ein breiter Miedergürtel eingearbeitet, der mit schwarzen Samtknöpfen seitlich geschlossen wird. Darauf trage ich Deinen großen Anhänger. Und weißt Du, woraus es ist? Aus einem uralten schwarzen Tuchmantel von der Mu, den sie getragen hatte, bevor ich ihr dann meinen schenkte, es war einer mit einem grauen Krimmerkrägelchen, vielleicht erinnerst Du Dich noch. Fledermausärmel, mein Herr, sind Ärmel, die am Unterarm eng anfangen und dann weiter werden und zum Schluss eine Weite von der Schulter bis zur Taillenmitte erlangen.

Also, und sozusagen beschwingt durch dies alles möchte ich am liebsten heute abend weiterfeiern und kann nicht. Und daher der Brief. Gestern abend habe ich mit Frau Hillenbrand oben bei Frau Klausen gesessen, und wir haben sehr viel gelacht, aber in der Stockdunkelheit war der kurze Weg schon scheußlich, und ich muss schon hin, weil sie wegen Margot nicht aus dem Haus geht. Sie war übrigens heute mit beim Kränzchen.

Vorhin wurde im Radio mit den neuen Briefmarken der Namen Ostland und Ukraine erwähnt. Da gelten die neuen Marken auch, mit diesem Aufdruck. Also scheint es ziemlich beschlossene Sache zu sein, dass wir das Stück Russland nicht mehr hergeben wollen, weil der neue Namen schon fertig ist.

Also, der Arzt hat heute festgestellt, dass Heidi ziemlich kurzsichtig ist, und sie bekommt nun nächste Woche eine Brille. Das arme Ding tut mir richtig leid. Sie wird aber so hausmütterlich, dass es eine wahre Freude ist. Abends kommt sie z.B. und erzählt, dass sie das ganze Haus schon verdunkelt habe, "auch das Badezimmer, Mutti!" Und heute mittag war der Rodonkuchen für die Kränzchendamen schon geschnitten, und als ich voll schlimmer Ahnungen hinstürzte, sogar gut geschnitten. Sie füttert den Jürgen und legt ihn anschließend ins Bett, und immer wieder überlegt sie: "Weißt Du, wenn ich groß bin, dann mache ich das in meinem Haushalt so, oder mit den Kindern so und so", und ihre Überlegungen sind stets verblüffend richtig.

Dazu hat sie der Ehrgeiz in der Schule gepackt, und sie will um alles in der Welt keine schlechten Aufgaben haben, und das alles in aller Stille, während sie nach außen manchmal so tut, als ginge sie das alles gar nichts an

Wogegen unsere liebe Helga ausgesprochen verträumt ist. Wenn

ich sie ins Wohnzimmer schicke, etwas zu holen, kommt sie unter Garantie nicht wieder und verliest über einem Buch Zeit und Welt. Aber ihre Kindheit ist von denselben Sorgen beschwert, wie meine es war. Sie bildet sich z.B. ein, dass sie keiner leiden möge. Diese Einbildung hat ja auch meine Kindheit verkorkst, bis ich dann eines Tages auf den erlösenden Gedanken kam: Streng Dich für Dich selber an, so gut zu sein, wie Du kannst, dann kann es Dir egal sein, ob die die anderen mögen. Und das hat mir dann enorm geholfen, und von dem Augenblick an war ich innerlich befreit.

Sag mal, wenn wir Ostland dazubekämen, dann läge Berlin ja beinahe im Westen des Reiches. Was für Perspektiven eröffnen sich da. Und welche Unmenge Leute braucht man in der Zukunft. Wie wird sich wohl unsere Zukunft gestalten?

Gestern kam Dein Brief mit dem 'Reich'. Brief ist zu viel gesagt, Umschlag meine ich. Ich habe die Zeitung um und um gestülpt, ob irgendwas Geschriebenes rauskäme, und sah dann doch zum Schluss die 1000 Küsse. Morgen kommt aber bestimmt Post.

Und nun gute Nacht. Ich will noch etwas lesen und eine Zigarette rauchen. Übrigens hole ich mir morgen meine Raucherkarte und Deine Mutter ebenfalls. In der Zeitung stand schon ein netter Artikel, dass nun, wo die Raucherkarte ausgegeben wird, sich die ältesten Omas eine holen, und das stimmt. Welches Quantum man darauf beziehen kann, steht noch nicht fest.

Weißt Du, was ich möchte? In Husum sein. 100000 Küsse, Deine Lotti