Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 12. Oktober 1942

den12.10.42

Nun ist gestern der Brief doch nicht weggegangen. Heute morgen ist es empfindlich kalt. Infolgedessen spielen alle Kinder im Haus. Entsetzlich. Es ist ein einziges Geschrei und Gezanke und die Omis und Lisbeth verlieren die Nerven. Ich selber bin auch nicht imstande, mich um die Kinder zu kümmern, ich kann es heute nicht ertragen. Die gestrige Nachricht lähmt mich noch so, dass ich nur mechanisch meine Arbeit tue und im übrigen rechne und rechne und überlege, was sie mir wohl abziehen werden. Denn das werden die unter allen Umständen tun. Gesetzt der Fall, sie ziehen mir 50.- Mk. ab monatlich und 50.- sollen nach Kassel, dann habe ich nur noch 195.- Mk. zum Verleben für neun Personen, denn von der Mu bekomme ich ja auf ein Jahr oder dreiviertel Jahr keine Unterstützung, weil ich abzahlen muss. 195.- für neun Personen sind weniger, als eine Arbeiterfamilie mit der Kopfzahl bekommt, und von diesem Geld müssen dann noch Zinsen an Schultz und Stadtsparkasse gezahlt werden.

Du musst unter allen Umständen versuchen, hierherzukommen, um die Angelegenheit zu ordnen, damit ich die alte Summe ausgezahlt bekomme. Ich habe Dir so oft gesagt, dass mir eines Tages die Verwaltungen angerechnet werden. Du hast es mir nie geglaubt. Ich habe Dich ebenso oft gebeten, aus diesem Grunde die Verwaltung abgeben zu dürfen, denn sie haben mich viel Aufregung gekostet und Du willst sie nach dem Krieg ja doch nicht mehr übernehmen. Willst Du sie wiederhaben, kannst Du das ja jederzeit, wenn Du sie an die Fachgruppe gibst.

Weißt Du einen Ausweg? Und wenn Du nicht kommst, was soll ich dann den Leuten sagen? Ich kann doch nicht hingehen und ihnen erklären, wofür das Geld alle weggegangen ist. Und Belege wollen sie dann auch noch haben. Und wenn ich bis zum Ersten nicht dagewesen bin, wird der Unterhalt bestimmt gesperrt.

Harald, ich kann auf das Geld nicht verzichten. Jetzt, wo Gas und Kassenbeiträge noch teurer geworden sind und ich mir wirklich gar nichts mehr leisten kann ausser den notwendigsten Sachen zum Haushalt verzweifele ich, wenn ich noch weniger haben soll. Ich führe sowieso schon ein ziemlich trübseliges Leben, viel primitiver wie alle meine Bekannten. Sieh mal, ich müsste einen Hüfthalter haben, dringend sogar, ich würde mir gerne eine Hut kaufen statt des alten Deckels, den Friseur habe ich völlig aufgegeben, ich trage die Haare völlig glatt und fest nach hinten gesteckt, meinst Du, das alles fällt mir leicht? Ich habe mir nur immer gesagt, ich halte so den Krieg durch, aber wenn nun diese Katastrophe kommt, weiss ich nicht weiter.

Bitte, bitte, schreibe sofort oder rufe an und versuche kommen zu können. Die ist bestimmt ein wichtiger Grund, wenn Deiner Familie die Existenzmöglichkeit genommen wird. Du musst den Leuten auf dem Landratsamt unsere ganzen pekuniären Verhältnisse klarlegen, damit ich weiter das Geld bekomme.

Diese verdammten Verwaltungen, wie ich sie hasse, denn durch die kommt mir jetzt auch dieses Elend wieder.

Und was meinst Du wie die mich auf dem Landratsamt behandeln werden, wenn ich hinginge, weil ich den Nebenverdienst nicht angegeben habe. Ich gehe deshalb nicht hin weil ich keine hieb- und stichfesten Argument beibringen kann. Ich bin denen ja völlig ausgeliefert. Es muss doch in diesem Falle um eine Ausnahme gebeten werden wegen besonderer Umstände und dann müssen nach Möglichkeit sofort die Verwaltungen abgegeben werden, damit ich den bisherigen Satz weiterbekomme. Oder, wenn Du das nicht tust, muss ich von allen Verwaltungen monatlich mein Geld bekommen.

Schreibe sofort, denn ich bin interesselos für alles, bis ein Brief von Dir kommt, mit Deiner Meinung.

1000 Küsse Deine Lotti.