Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 14. August 1943

den 14.8.43

Liebster Mann!

Eben komme ich aus einem großartigen Film: ‘Wien 1910‘. Großartig ist vielleicht zu viel gesagt, sehr gut ist besser. Er behandelt die Gestalt des damaligen Bürgermeisters von Wien, Dr. Lueger.

Heute bekam ich Deinen ersten Brief nach Deiner Ankunft in Jever, gestern und vorgestern die danach geschriebenen. Nun, kurz nach 10, sind es schon wieder acht Tage, dass wir auseinandergegangen sind. Man kann es gar nicht so ausdrücken, was ich so alles dabei empfinde, wenn ich an unsere gemeinsamen Tage denke, besonders, da jetzt doch alles immer schwankender wird und man wirklich nicht weiß, ob man sich wiedersieht.

Der vorgestrige Angriff brachte es einem wieder ganz stark ins Bewusstsein. Trotzdem hat ein Angriff bei Tage nicht ganz das Grauenvolle wie ein halb so schlimmer Alarm in der Nacht, auch wenn die Bomben fallen. Sogar die Flieger, die senkrecht über uns in der Luft daherflogen, sah man sich mit Interesse an. Wie dann aber der Boden von den Einschlägen in Bonn zitterte, machten wir, dass wir in den Keller kamen, um allerdings sofort wieder rauszulaufen und weiter zu sehen. Mehrere Godesberger, die gerade in Bonn waren, sind auch tödlich getroffen, z.B. der Gemüsehändler Klemens aus der Horst-Wessel-Strasse neben dem Sarglager Glitsch und eine junge Frau, Mutter von drei kleinen Kindern aus der Römerstraße, die Nachbarin von Frau Haller.

Nun wird ja wohl dieser Angriff auf Bonn nicht der einzige bleiben, trotzdem rege ich mich nicht auf. Was kommen soll, kommt, wir können es nicht ändern, und solange es geht, genieße ich meine Wohnung und die schönen Tage, die wir gehabt haben und alles, was einem der neue Tag bringt.

Weißt Du, ich glaube aber, aus der Fahrt nach Hessen wird nichts werden. Erstens habe ich zwei Reisen gemacht und muss ja auch erst wieder sehen, dass ich mit meinen Finanzen in Ordnung komme, und zweitens wäre Deine Mutter reichlich schockiert über Deine Idee. Eine dritte Reise in

einem Jahr dürfte ich ihr wohl nicht antun, besonders da sie selber zu keiner kommt. Nun hat sie durch Fräulein Wall eine Adresse in Kripp, wo sie sich ‘so quasi‘ angemeldet hat. Aber weder halte ich Kripp für eine Erholung noch wird eine ‘so quasi‘- Anmeldung wohl klappen.

Äpfel hätte ich gerne. Ich will sehen, dass ich Anfang nächsten Monats, wenn ich das neue Geld bekomme, 40,- Mk. für einen Zentner schicke. Da wir neun Personen sind, sind ja 10 Pfund auf den Kopf nicht zu viel im Winter. Ich muss aber erst einen Schlüssel zum Vorratskeller haben, denn sonst halten die Äpfel keine vier Wochen.

Weißt Du, was ich in Jürgens Augen bin, weil ich trotz seines Widerspruchs heute abend doch ins Kino ging? "Eine verrückte Ei“. Deine Lotti

Liebster Mann,

alles ist im Bett, und ich habe eben, um mit mir und meinen Gedanken allein zu sein, die letzte Deiner Zigaretten geraucht. Es ist doch schade, dass ich so selten zu einem völligen Alleinsein mit Dir komme. Es wird so sehr viel Unsinn abends mit den Omis geredet. Ein Abend in der Woche müsste mir gehören. - Draußen rauscht der Regen, das gibt der Gemütlichkeit des Zimmers noch die Abgeschlossenheit und die behaglich stimmende Aussicht auf eine Nacht ohne Sirene. Wenn das vielleicht auch nicht wahr ist, so habe ich dann doch die Vorfreude gehabt und die lasse ich mir nicht nehmen.

Immer wieder kommen mir blitzartig Bilder aus den vergangenen Tagen, aus Berlin und Stettin. Die drei Wochen in Jever sind durch die letzte Erinnerung augenblicklich matt geworden, sie werden mit der Zeit wieder an die Oberfläche kommen. Die letzten Zeilen aus dem kleinen Goetheschen Gedicht ‘Eigentum‘ kommen mir immer wieder ins Gedächtnis:

‘... und jeder günstige Augenblick, den mich ein liebendes

Geschick von Grund auf lässt genießen‘. Dass die Zeit so geworden ist, dass man vergisst, an Zukunft, Aufbau und Vorwärtskommen zu denken, sondern nur an das Sammeln von Erinnerungen. Eine andere Zeit wird wohl auch wieder das andere in den Vordergrund treten lassen, aber jetzt ist es doch so, dass man, gleichgültig, was die Zukunft bringt, der man ja machtlos ausgeliefert ist, nur das Zusammensein ersehnt, ohne an das Morgen zu denken. Meine Zukunftspläne gehen auch jetzt nur bis zu Deinem Urlaub und wenn der vorbei ist, immer nur bis zum nächsten Tag. Vielleicht ist es doch bei Euch Männern anders, vielleicht sehr Ihr doch weiter und versucht, in der Zukunft zu ordnen, aber bei mir ist es so, weil ja meine Zukunft an Deiner hängt und ich darin den von Dir eingeschlagenen Weg gehen werde.

Ich war heute bei Frau Hillenbrand. Sie hat gestern ein Schreiben von irgendeiner militärischen Stelle bekommen, dass ein Soldat namens Mengs, dessen Heimatadresse angegeben war, den Soldat Kurt Hillenbrand am 21.1. noch in Stalingrad lebend getroffen hat und gesprochen hat. Neun Tage darauf wurde ja Stalingrad übergeben, und nun grübelt die arme Frau darüber nach, ob er diese neun Tage überstanden hat und gefangen ist oder gefallen. Sie hat natürlich sofort an die Adresse geschrieben und wartet nun auf darauf, was ihr der Soldat mitteilt.

Heute hat Hanselchen nun ihren Mann auch wieder hergeben müssen. Es wäre ja schön, wenn sie den Einfall bekäme, auf der Rückreise über Godesberg zu kommen, aber sie wird nun wohl möglichst schnell wieder an ihre Arbeit müssen.

Heidi trauert Stettin überhaupt nicht nach. Sie ist bloß froh, dass sie wieder bei Mutti ist. Sie sagte jetzt wieder: „Freiwillig geh'k nich mehr wech." Sie schläft in Deinem Bett, weil ich nicht weiß, wo ich ihr Bett aufstellen soll. Im früheren Wartezimmer unten, wo jetzt die Kinderbetten stehen, ist kein Platz für ein viertes Bett, wenigstens kein großes.

Überhaupt macht mir Kopfzerbrechen, wie ich eine Trennung von Jungens und Mädels durchführen kann. Jetzt schlafen ja drei Kinder unten und zwei bei mir. Kommst Du aber auf Urlaub, dann gerät Heidi unter das fahrende Volk und muss auf irgendeine Chaiselongue oder Sofa. Dabei habe ich ein Bett und kann es blos nicht aufstellen.

Was sagst Du zu Leutnant Gaisers Gedichten? Hattest Du sie Dir so gedacht? Und was sagt Wilhelm Lichtschlag?

Ich lese jetzt mit noch größerem Interesse das Buch über Berlin von Helene von Nostitz. Übrigens hatten wir uns geirrt. Das berühmte Eckfenster des alten Kaisers war nicht im Berliner Schloss, in dem er nie gewohnt hat, sondern im Kronprinzenpalais, dem einfachen Gebäude auf der linken Seite unter den Linden, das er bis zu seinem Tode bewohnt hat. Da haben wir nach der falschen Seite geguckt.

Ich glaube, es ist bald halb zwölf. Gute Nacht, Liebster.

Deine Lotti