Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 20. August 1943

den 20.8.43

Liebster Mann!

Eigentlich wollte ich ja heute abend stopfen, aber ich hatte ja auch den ganzen Tag vor zu schreiben. Nur kurz, weil ich nicht viel weiß, aber immerhin, weil Du ja nach Möglichkeit Post von mir haben willst. Dieser Brief sollte dann eigentlich mit der Sechsuhrpost abgehen, damit es wirklich ein Brief von heute wurde, aber nun ist es später Abend, und nun ist es ein Brief von morgen.

Heute morgen war ich zweimal auf dem Wirtschaftsamt, dann bei Biederbick und habe mit Lisbeth Kartoffeln bei Jülich geholt, und damit war der Morgen erledigt. Heute nachmittag musste ich wieder in die Stadt, überall hin natürlich vergeblich und trotzdem im Grunde nicht, denn bei Frau Schemann sah ich schüchtern und ohne Grund rein, die Gute sagte: "Warten Sie, ich habe was für Sie" und packte mir dann ein Kaffeeservice mit sechs Tassen und eine Kartoffelschüssel ein. Das nennt man doch eine Überraschung.

Im übrigen sind im Schatten 32 Grad gewesen, und so ist mir auch jetzt zumut… Die Omis sind Bier trinken gegangen, aber die Aussicht auf einen Abend, ganz allein mit Dir, war so betörend, dass ich meinen Durst mit Wasser stillte und hier blieb.

Ich mache mir viel Gedanken über Vergängliches - eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit - und diese Schnelligkeit erschreckt mich immer wieder. Ich glaube, wenn einmal Schluss ist mit uns, dann ist es immer noch zu früh gewesen. Warum muss das sein? Was denkt sich die Natur dabei? Was ist höher zu bewerten, das Leben an sich oder der Staat, der doch schließlich ein 'Gebild von Menschenhand' ist genau wie eine Religionsform. Müssen aber Formen für die Menschen da sein, so muss man den verschiedenen Religionsformen auch ihr Dasein lassen. Im Grunde wird ja dann die eine oder andere Religions- oder Staatsform nicht bekämpft, weil sie falsch ist, sondern weil eine der anderen keinen Platz neben sich lassen kann. Richtige und falsche Seiten haben alle. Aber diese Gedanken führen ins Uferlose, Pappi, wenigstens auf dem Papier.

Ich bleibe lieber bei realen Erlebnissen. "Komm doch ruhig und hau mich, ich schlafe doch nicht", sagte mein lieber Jürgen gestern nacht, als er nach seiner Ansicht genug geschlafen hatte, Er hat überhaupt sehr eigene Ansichten, die er uns gegenüber kühn vertritt. Wie verschieden sind die beiden Jungens. Klaus, der kleine, liebe, gründliche, weiche, Jürgen, der selbstbewusste, über der Situation stehende, nach Belieben mit Zärtlichkeit oder Frechheit agierende.

Die Reise nach Hessen ist ja sehr verlockend, aber ich muss nun wirklich bremsen, trotz allem. Ich muss noch die beiden Reisen ausbalancieren und habe jetzt die Kohlenrechnung von erst mal 105,- Mk., dann kommen Kartoffeln mit 150,-. Hans Schultz muss seine Zinsen haben und Hans Batthein ebenfalls und dann soll ich anfangen Grashoff abzuzahlen. Liebster Mann, so schön die Idee ist, lass man, denn sonst kommt mir mein Budget durcheinander.

Und nun mache ich Schluss. Es war übrigens gestern abend sehr schön, als ich nach Hause kam (ich war gerade in Ittenbach zu Anprobe) und fand zwei Briefe und eine Karte vor. Es war geradezu ein Fest.

Liebe Küsse und Grüße.

Deine Lotti