Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 24. Oktober 1943

den 24.10.43

Liebster Mann!

Es ist Sonntag, aber ein verregneter, und damit wird wohl auch die warme Herrlichkeit aus sein, trotzdem es immerhin 25 Grad sind. Ich habe eben bei Beitin ein paar Blumen geholt, teuer und wenig, aber Sonntag, meine ich, müsste man ein paar Blumen im Zimmer stehen haben zur Unterstreichung des behaglichen warmen, aufgeräumten Zimmners. Ich liebe auch den Sonntagmorgenkaffee so, wir beide übrigens, aber der geht ja jedes Mal in die Binsen. Die guten Vorsätze sind da, aber fünf Striche, die sie durchstreichen, ebenfalls. Einer will die Buxen aufgeknöpftkriegen, der andere zu, zwei hauen sich und Jürgen zergt einen um jeden Bissen, sodass ich froh bin, wenn ich die letzte Schnitte gegessen habe und an die ordnende Arbeit kann. Jetzt ist Jürgen verschwunden, Helga zur Omi, Ursel und Heidi Milch holen und blos Klaus, der ja nie stört, ist bei mir.

Nächste Nacht ist schon wieder Oktoberschluss und Novemberanfang. Und so wartet man weiter vom Herbst in den Winter und wieder ins Frühjahr. Wann bist Du wohl für immer da, und wie wird dann die Welt aussehen?

So wie in allem, Beruf, Lebensanschauungen, Kleidungen usw. ein tiefer Schnitt zwischen 1914 und 1918 war, so wird es zwischen 1939 und 19?? ? sein. Es sind ja bloß vier Jahre zwischen 14 und 18 gewesen, aber stelle Dir nur mal die Kleidung der Frauen in den beiden Jahren vor oder das junge Mädchen von 14 und das das von 18. Es ist eine Kluft wie zwischen einem Jahrhundert beinahe. So wird es wohl auch diesmal sein. Und für die Kinder werden es überhaupt sagenhafte Zeiten aus Muttis und Pappis Jugend sein, denn allein für Helga sind doch fünf Jahre schon wie ein halbes Leben bei uns. Jürgen kennt es ja überhaupt nicht anders. Er weiß von seinem ersten Lebenstag an, dass nachts oft die Sirene heult, dann zieht sich die Familie an und setzt sich in den Keller. Es wird für seine Begriffe wohl mit zum Leben gehören. Helga hat ja noch matte Erinnerungen an die Friedenszeit, aber nur sehr matte.

Wie mag Kassel jetzt aussehen? Es hat doch, glaube ich, vier Terrorangriffe seit unserer Hessenreise hinter sich. Der letzte Angriff wurde ja auch als schwerer Terrorangriff bezeichnet.

Die Beulenpest der Kinder ist zu meiner Verzweiflung immer noch nicht fertig. Immer wieder flackert sie neu auf. Ich habe schon ein Vermögen an Hansaplast verbraucht. Schrecklich! !

Ich muss noch die Kaffeemütze beziehen, Pappi, und außerdem wird bald gegessen.

Viele Küsse Deine Lotti