Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, um den 20. Dezember 1943

[um 20.12.43]

Liebster Mann!

Ich hatte bis jetzt gedacht, Weihnachten käme dieses Jahr gar nicht für mich, was die Weihnachtsstimmung angeht. Und nun merke ich, dass alles, je näher man dem Fest kommt, wie immer ist. Der alte Zauber ist wie jedes Jahr wieder da. Ich habe eben die Nikolausteller für die Kinderteller fertiggemacht, der Nikolaus kommt auch gleich, es ist Kunito Schubert. Vorher habe ich mit Klaus und Ursel Weihnachtsarbeiten für die Omi fabriziert. Ursel stöhnte erbärmlich dabei und meinte, sie sei doch doof. Ursel und Klaus sind jetzt mit Omi Hechtle ins Krankenhaus gegangen. Klaus hat seine neue lange Hose an aus Deiner alten grünen und sieht mit dem Ulster wie ein Miniaturmann aus, süß. Heute abend werden die Puppen weiter angezogen.

Von Dir fehlt bis auf zwei Briefe alle Post. Entweder funktioniert der Laden nicht, oder Du schreibst weniger, weil ja doch Weihnachten kommt. Hansi schrieb heute, dass Ernst bei ihr ist und sie zusammen für 10 Tage nach Berlin wollen. Der Brief ist aber auch schon über acht Tage alt.

Ich habe gestern das Konzert besucht, ich hatte mich mit Hilfe von Fräulein Hunscheidt und einem einführenden Vortrag auf „Die Kunst der Fuge" ziemlich vorbereitet und beinahe wäre aus dem Ganzen nichts geworden, weil Vollalarm kam. Der hörte aber eine Viertelstunde vor Beginn des Konzertes auf, und der nächste setzte erst eine halbe Stunde hinterher ein. Aber man kann doch sagen, dass es beinahe nichts nützt, es einmal gehört zu haben. Das muss erarbeitet werden. Der Jürgen kommt rein und reißt mir meinen Geistesfaden mit Gewalt durch, mal knipst er das Licht aus, mal geht er ans Telefon, und dabei redet er ununterbrochen wie ein Buch.

Dazu kann ich ihm andauernd was auf die Finger geben. Es ist unmöglich, weiter zu schreiben.

Ich möchte nur bemerken, und das wusstest Du genau höchstwahrscheinlich so wenig wie ich, dass die Kunst der Fuge erst 1935 wieder neu geordnet und entdeckt worden ist von einem siebzehnjährigen Abiturienten, einem Wunderkind, Wolfgang Graeser, der dadurch unsterblich wurde, der dann aber mit 23 Jahren durch Selbstmord endete. Fräulein Hunscheidt gab mir seine Lebensbeschreibung. Lichtschlag wird Dir vielleicht mehr darüber erzählen können.

Jürgen telefoniert mit dem Nikolaus: "Nikolaus, es weihnachtet sehr, es wird schon dunkel, wir machen gleich die Kerzen an." Und dann antwortet er sich selber mit tiefer Stimme: "Ich komme gleich, ich backe nur noch Kuchen". - Eben versucht er, mit der Schere die Telefonschnur durchzuschneiden. Ich muss aufhören, außer mir ist niemand im Haus.

Zwei alte Godesberger sind gestorben, Posthausen und Dr. Oden.

1000 Küsse
Deine Lotti

Ich möchte gleich das Gesicht von Jürgen sehen. Bis jetzt behauptet er, keine Angst zu haben, und er will den Nikolaus hauen.