Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 30. Dezember 1943

den 30.12.43

Mein liebster Mann!

Ich habe der Familie erklärt, dass ich heute abend Briefe schreiben will. Nun wissen sie, dass sie mich heute abend alle in Ruhe lassen sollen. Ich schreibe nur den an Dich, und im übrigen werde ich mir ein paar Kerzen anzünden und ganz für mich allein das Zimmer und den Weihnachtsbaum genießen und dann noch ein paar Plätzchen essen und in dem dicken neuen Buch lesen. Zur Sicherheit habe ich das Zimmer sogar abgeschlossen. Und nur so kann ich zu einem wirklichen Gefühl all dieser Dinge kommen. Und ich möchte auch, wozu ich gar nicht gekommen bin, am Tage wegen des Betriebs und nachts wegen meiner göttlichen Müdigkeit, ein bisschen die Tage mit Dir überdenken. Morgen abend werden wieder alle im Zimmer sein. Dass Du aber morgen Nachtdienst hast und vielleicht mit mir zusammen das Radio hörst, ist mein Geheimnis, und das sage ich keinem, damit ich das wenigstens ganz mit Dir allein habe.

Überdies haben wir augenblicklich den vierten Alarm. Man merkt, dass sich das Wetter bessert. Die Kinder hatte ich natürlich gerade gebadet, und sie mussten anschließend in den kalten Keller. Wenn das nicht mal Folgen hat! Ich habe sie dann allerdings hinterher selber eingerollt, damit ich das beruhigende Gefühl habe, dass alle warm und muggelig sind.

Fräulein Wolf hat mir gestern Spaß gemacht. Sie hat zwar sich eigentlich einige bodenlose Unverschämtheiten geleistet, aber bei ihr freut es mich. Es scheint sie nämlich erheblich zu stören, dass ich Interesse an Büchern habe, und nun meinte sie nicht mehr und nicht weniger, als, ich sähe so aus, als ob mich die Anforderungen des prosaischen Lebens in keiner Weise interessierten!!! Und es sei traurig genug, dass Helga so gerne läse, und wenn ich als Mutter eines so großen Haushaltes meine Pflichten anständig und ordentlich!!! erfüllen würde, mir doch keine Zeit bleiben dürfte, auch nur ein Wort zu lesen. "Manche Leute lesen eben gerne und vergeuden ihre Zeit damit, andere sehen ihre Pflicht darin, den Mitmenschen zu helfen und ihre Pflicht zu tun!!!“ Und das bin ich!!!! Und dabei sahen ihre Augen schlangengleich in die Gegend.

Übrigens: Entwarnt. Ich glaube nur nicht, dass es damit für heute Schluss ist.

Heute kam ein Glückwunschschreiben von Fräulein Canisius. Danke ihr recht herzlich in meinem Namen und wünsche ihr auch alles Gute fürs neue Jahr. Und denke daran, Frau von Salvini für die Zigaretten zu danken. Weil sie ja aufgeraucht sind und das Zettelchen auch hier liegt, könntest Du es leicht vergessen.

Und morgen ist Sylvester: Ich will keine großen Reflexionen daran knüpfen, außerdem liegt mir das gar nicht, ich werde dankbar daran denken, was uns dieses Jahr an persönlichem Glück gebracht hat und mich freuen, wenn wir in unserem kleinen Kreis auch im nächsten Jahr von Krankheit, Tod oder Trennung verschont bleiben. Alles andere lässt sich überstehen. Und was uns sonst noch vom Schicksal auferlegt wird, müssen wir überwinden oder erarbeiten oder anständig durchleben, wie es uns gegeben wird, mehr ist darüber nicht zu sagen.

Was die Gestaltung des Silvesterabends betrifft, haben die Mu und ich uns vorhin den Kopf zerbrochen. Wir haben kein Gramm Fleisch, haben andererseits aber auch keineswegs Lust, gerade am Silvesterabend zu essen wie immer. Die festliche Note muss sein. Nun haben wir das Souper mit den vorhandenen Mitteln zusammengestellt: Bouillon in Tassen (von den Knochen vom Neujahrsbraten) dann, garniert auf einem Teller eine Scheibe Toast mit Butter und Sardellen und eine mit Käse überbacken für jeden und zum Abschluss eine hübsch garnierte Süßspeise. So sind auch mit Eleganz die paar Sardellen und das Viertel Käse, was ich noch zu kriegen habe, verteilt, und das Essen rechtfertigt eine weiße Tischdecke und festliche Kleidung. Hinterher gibt es dann oben ein Rumgetränk und Gebäck, Silvesterprogramm im Radio und den brennenden Baum. Die beiden Großen dürfen bis zehn aufbleiben und Gesellschaftsspiele machen.

Wie bist Du nach Jever gekommen? Es ist eine Schande, jedes Mal, wenn Du so in die Nacht fahren musst und ich Dir zuliebe im Bett noch wachbleiben will, schlafe ich wie ein Ratz bis zum nächsten Morgen durch, ohne auch nur aufzuwachen. Hoffentlich konnten Dich wenigstens die Zigaretten trösten. Hinterher war mir dann eingefallen, dass ich mir wenigstens eine oder zwei für eine nachdenkliche Stunde reservieren konnte, aber mir fällt ja manchmal das Gute zu spät ein.

Gute Nacht, mein lieber Mann. Wie man sieht, geht es doch, lange Briefe zu schreiben, wenn der Mann erst einen Tag weg ist und jeden Tag dasselbe passiert, weil wir im fünften Kriegsjahr sind. Man muss wieder den Kontakt haben.

Gute Nacht!

Deine Lotti