Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 18. Dezember 1940

Bergen, den 18.XII. 40

Mein liebes Lottenkind,

Jetzt ist der erste Tag in Bergen und ohne Post von Dir bald um. Es ist zwar erst 7 Uhr aber unser Tag ist ja auch früh zu Ende. Eben habe ich einen Spaziergang in unser neues Reich gemacht. Bergen scheint ein Kurort zu sein. Es gibt hier unwahrscheinlich viel Pensionen, Konditoreien usw. mit Kurpreisen, dann, als der Ort hinter uns lag – ich war mit Hildebrandt los – kamen wir in eine richtige Mondlandschaft. Dünen über Dünen und zwar so hoch, wie ich sie nie gesehen habe; dazwischen Trichter und Krater, verkrüppelte Bäume. Überall hing der Nebel zwischen und es konnte einem beinahe unbehaglich werden. Ich könnte mir denken, daß in dieser Gegend viele Sagen und Spukgeschichten zu Hause sind. Am nächsten Sonntag will ich mal ans Meer hinaus, das Du hier überall schon auf der Zunge spürst. So, das - mein liebes Kind- ist so der erste Eindruck von dem Land, in dem Euer Pappi dieses Jahr Weihnachten feiern wird. Ich hatte heute während des Spaziergangs manchmal ein ganz unwirkliches Gefühl. Ich musste mich selbst anfassen um zu begreifen, daß ich selbst es war, der da in einer ganz fremden Welt herumlief. Durch Hoffen und Enttäuschungen bin ich im Augenblick innerlich ganz leer. Auch die Wut gegen den blöden Zufall ist abgeebbt. Die seelische Spannung war zu groß. Die ganzen letzten Tage und Wochen

war nur noch vom Urlaub die Rede. Die Parolen überschlagen sich,, dann war die Ungewissheit und dann die Freude und dann die Katastrophe. Es ist das erste Mal, daß das Soldatsein ein wirkliches großes Opfer von mir verlangt. Und ich bin richtig böse auf mich, daß ich es nicht mit mehr Gleichmut trage. Wenn ich Dich – liebes Kind - und die Kinder, und meine Mutter und die Omi und mein Heim nicht so schrecklich lieb hätte, wäre es ja wohl auch anders. Es wird wirklich von mir nicht mehr verlangt als von 100.000 anderen. Der Trost ist miserabel aber es ist doch einer. Die Kantine hier wird eben gerade „weihnachtlich“ geschmückt, d.h. mit Papiergirlanden und Fähnchen und hinten Rüschen. Jetzt weist (!) Du auch, was uns am Weihnachtsabend bevorsteht. Etliche 1000 Flaschen Bier werden wohl auch noch kaltgestellt. Ein elektrisches Klavier ist auch da. Du siehst es ist alles aufs Beste gerichtet. Hildebrandt ist aus allen Fugen und ich muss ihm noch Hilfe und Trost sein. Verdammt faule Geschichte, das! Aber wir werden uns schon wieder begrabbeln. Wüßte ich doch nur ob meine Paketchen angekommen sind, und ob sie Euch Freude gemacht haben. Von hier kann ich wohl nichts mehr schicken, denn hier bekommt man, so viel ich es bis jetzt feststellen kann, nichts. Daß Du das Geld sofort abgeschickt hast war sehr lieb von Dir. Leider habe ich es in Amsterdam nicht mehr bekommen. Es wird wohl noch geschickt werden. Wie lange wird es wohl dauern, bis ich Post von Dir bekomme. Tage ohne Post sind verlorene Tage, und es gehen jetzt sicher so viele verloren. Ich bin wieder wie ein altes Waschweib und dabei geht es mir

körperlich ausgezeichnet. Jetzt muss ich Dich doch mal nach dem Brombeergeist fragen, wie weit ist er denn alle. Ich habe wirklich lachen müssen, wie Du mir fast in jedem Brief einen neuen Grund nanntest, warum Du Dir einen genehmigen solltest. Ich sage nur Prost! Er ist ja schließlich für schwache Stunden dar. Ich habe mir gerade ein Pfeifchen angesteckt und siehe da, die Welt sieht nicht mehr ganz so abweisend aus. Ich glaube allerdings, dass es nicht nur das Pfeifchen ist, sondern noch mehr, daß ich mal wieder mit Dir erzählen kann. Es ist verhältnismäßig still. Die Kameraden, soweit sie noch Geld haben, sitzen in der Kantine und versaufen ihren heimlichen Kummer. Nur 2 neue Kameraden aus dem Münsterland sitzen hier und schreiben auch. Sie sprechen ohnehin nicht allzuviel und das Schreiben verschlägt ihnen erst recht die Rede. Sie sitzen da und kauen an ihren Haltern und glotzen stur vor sich hin. Ich möchte solch einen Brief mal lesen. Es sind beides Bauern. Ich habe heute nochmals einen verzweifelten Versuch unternommen, Urlaub zu bekommen. Die Quote ist 1,2 %, es ist hoffnungslos, denn das man da nicht gerade die „Neuen“ schickt ist psychologisch ja nur zu begreiflich. Dabei fängt unsere eigentliche Arbeit hier offenbar erst nach Weihnachten an. Es sind eben nur wenige auserwählt. Meine Kameraden, die in Amsterdam geblieben sind, packen jetzt schon die Koffer um morgen in die Heimat auf Urlaub zu fahren. Da keine Urlauberzüge fahren, fahren sie ab Arnheim per Schiff bis Duisburg. Wenn die Versetzung nicht gekommen wäre, wäre ich dabei! Weist (!) Du noch Lotting, wie ich früher eine solche Fahrt immer geplant habe. Mit Theo schon. Nun wäre ich beinahe

dran gekommen. – Beinahe – ich habe gerade mal wieder unser herzliches Familienbild vor mir. Es sieht schon ganz speckig aus vom vielen Anfassen. Sie mag wohl jetzt der kl. Jürgen aussehen. Ist er noch so dick? Ich freue mich immer so über Deine Kindererzählungen. Lotting, Du bist eine süße Mutti. Ich merke so aus allem heraus, wie Du mit den Kindern verbunden bist. Ach Lotting, es ist wohl eine enorme Arbeit, aber doch wohl die schönste, die es gibt.

Herzlichste Grüße an Euch alle.

Ich nehme Dich in den Arm, Du mein süßes Frauchen
Dein Soldat