Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 23. September 1944

Godesberg, den 23.9.44

Mein lieber, lieber Mann!

Ich schreibe Dir am Samstagnachmittag, kurz nach Tisch - - -(das war, mittlerweile ist es neun Uhr abends).

Der verregnete Tag heute hat mich gelöst von allem, was Krieg heißt und mich mit doppelter Freude der Arbeit an Haus und Kindern hingegeben. Nachmittags habe ich dann bei Toni Hillenbrandt Pflaumenkuchen gegessen, und morgen bin ich zum Kaffee bei Ilse Düren eingeladen. Es war richtig gemütlich, zwar mit einem leisen Grummeln in der Seele, denn trotz allem stehen die Amerikaner nahe, und fraglich ist ja doch alles.

Gestern war ich in einem sehr hübschen Film: 'Der Majoratsherr' mit Willi Birgel und Anneliese Uhlig. Leider hatten wir zweimal Vollalarm und mussten in den Keller, aber wir haben ausgehalten, eisern, denn wir wollten den Film zu Ende sehen. Vormittags kam Vollalarm, gerade wie ich in der Stadtsparkasse war, um endlich Omi Endemanns Konto aufzulösen. Und dann fielen Bomben, aber rundum. Die Zeitzünder gehen heute noch alle in die Luft. In Godesberg selber Gottseidank nicht, aber in Lannesdorf, Mehlem, Viktorshöhe, Cäcilienhöhe, Schweinheim, Dollendorf, überall. Die Dinger wurden von Tieffliegern gesetzt, die immer wieder mit Heulen die Kurve nach unten nahmen. Ungemütlich.

Ich habe mir heute (um auf ein anderes Thema zu kommen) die Novelle ´Unterm Birnbaum´ von Fontane geholt, die ich noch nicht habe. Pappa Möckel ist vom Schippen wieder umgeschickt worden, das hat ihn sehr erleichtert, denn für derartige Künste ist er nicht.

Stell Dir vor, nun ist auch Fräulein Matzerath gestorben, und Helga hat wieder keine Klavierlehrerin. Ich weiß nun wirklich nicht, wo ich sie hintun soll, warte jetzt aber auch ab, wie sich die ganze Lage weiterentwickelt. Ich möchte sie auch nicht einer beliebigen Lehrerin geben, sondern wieder einer vom Schlage Fräulein Hunscheidts, die ihr nicht nur Noten, sondern auch Verständnis für Musik beibringt. Die Schule macht ihr viel Freude, erstens ist die Atmosphäre doch eine ganz andere, und zweitens freut sie sich über die Vielseitigkeit des Wissens, das ihr beigebracht wird. Die Schulen sind nämlich wieder aufgemacht worden. Auch das Päda hat seinen Schülern geschrieben, aber es wird angenommen, dass nicht viel Interne zurückkehren werden.

Ich kann mir denken, dass Du stockend Post bekommst, aber eigentlich müsste Deine Post dann auch nicht kommen. Sie ist immer in drei Tagen hier. An Lenchen habe ich auch geschrieben, dass wir bis zuletzt hierbleiben und nur gehen, wenn es gar nicht anders möglich ist. Offengestanden, mit fünf Kindern dem pingeligen Lenchen auf die Bude rücken, schreckt mich mehr, wie hier in die Keller müssen.

Anderseits, die Leute, die in Aachen geblieben sind, werden es sicher schon bereut haben. Man hatte gedacht, die Welle ginge in zwei Tagen über sie hinweg, und nun wird schon seit vierzehn Tagen im Aachener Raum gekämpft. Stelle Dir bloß vor, was die dort mitmachen müssen. Und dann ohne Verpflegung oder wenigstens ohne richtige, und wenn dann auch noch Kinder dageblieben sind. Wenn man das überlegt, geht man doch lieber, wenn das Räumen befohlen wird. Es sollen nämlich ungefähr 30.000 Leute in Aachen zurückgeblieben sein, trotz zweimaliger Aufforderung und trotzdem die SS durch die Keller ging und die Leute heraustrieb. Sie sind eben wieder zurückgegangen. Aber es war doch falsch.

Ich habe diese Woche noch einmal den Münchhausenfilm gesehen. Daran siehst Du, wie verhältnismäßig ruhig wir wieder geworden sind, denn vorige Woche ist uns sogar dazu die Lust vergangen.

den 25.9.44

Eigentlich sollte der Brief lange dort sein. Aber die Tage laufen davon. Heute abend sind die Kinder außer Rand und Band, und wenn ich sie im Bett habe, habe ich eine Menge Arbeit zu erledigen, aber zuerst will ich diesen Brief fertigschreiben, denn dass Du mehrere Tage ohne Post dasitzt, passt mir nicht. Jürgen liegt im Bett mit einer kleinen Grippe und benimmt sich wie ein Fürst (Onkel Emil?), die anderen beziehen heute abend noch Ohrfeigen, das sehe ich kommen.

Stell Dir vor, die Müllabfuhr ist endgültig eingestellt, und nun entstehen an allen Straßen-ecken, an denen nicht gerade ein Haus steht, große, übelriechende Müllhaufen, die natürlich von Hunden auseinandergerissen werden. Wenn ich zu Biederbick muss, muss ich auch an einem solchen vorbei und ekele mich jedes Mal. Aber alle Gefangenen und ausländischen Arbeiter sind ja von dieser Seite fortgeschafft worden.

Ebenso, und das ist eine Katastrophe, sind unserem Schuster seine acht Russen weggenommen worden, und er hat seinen Laden zugemacht. Das Amt, das ich anrief, sagte, dass sie auch nichts daran ändern könnten, die anderen Schuster seien bis an die Grenze der Möglichkeit besetzt, einen Ausweg wüssten sie nicht.

Nun hatte ich ja den Kindern teilweise auf die neue Karte Schuhe gekauft, aber die sind auch bald durchgelaufen, und die alten stehen nun ungesohlt hier. Was ich dann in Kürze machen soll, weiß ich auch nicht. Ebenso kann Schlosser Honnef den Ofen natürlich nicht machen, nachdem er mich den ganzen Sommer vertröstet hat. Nun sind ihm durch den Aufruf zum Kriegseinsatz der Vierzehnjährigen natürlich auch die letzten Lehrjungen geholt worden, alles andere ist am Westwall und wird da wohl auch bleiben, und aus dem Ofen ist ein großes Stück Eisen herausgefallen. Ich muss auf die Gefahr hin, dass er ganz kaputtgeht, aber doch heizen. Das sind so die Sachen, mit den man sich herumschlägt , die aber, so mies sie sind, zu ertragen sind, wenn wir nur in unseren vier

Wänden bleiben dürfen. Was war das in der letzten Zeit für eine Aufregung und für eine Angst. Keiner war davon ausgeschlossen, mochte er nun ein hohes Amt bekleiden, eine Frau sein, ein Handwerker oder sonstwer. Schildern kann man das nicht.

Es scheint ja wirklich, als ob sich die Lage stabilisiert hat, Aber gestern morgen wurde ich wach von heftigem ununterbrochenen Kanonendonner, der von halb fünf bis halb acht anhielt und den ich noch nie so nahe gehört habe. Vielleicht kam der Wind von Westen. Immerhin war der Druck auf der Seele auf einmal wieder da und ließ mich nicht mehr einschlafen, denn was man in den letzten Tagen vergessen hatte, die nahe Front machte sich bemerkbar und erinnerte daran, dass wir uns doch auf schwankendem Boden befinden. Aber kaum ist die akute Gefahr vorbei, lebt der Mensch wieder - Gottseidank - wie gewohnt weiter.

Es ist interessant, was Du von den Spreewaldbauern erzählst. Ich nehme aber an, dass die Deutsche Arbeitsmaid einfach aus dem Grunde aus der Tischgemeinschaft ausgeschlossen ist, weil sie ihnen zu fein ist und die Bauern sich in ihrer Gegenwart geniert fühlen, wie es schließlich in etwa ja auch in Asseln war, wo ich ja auch für mich essen musste.

Stell Dir vor, Klaus wollte gestern mit Büb nach Koblenz gehen. Büb hatte ihm gesagt, er wolle sich dort die Spielsachen von seiner Großmutter holen. Sie brauchten nur immer die Landstraße geradeaus gehen, einen Tag und eine Nacht lang, dann wären sie da. Als sie die letzten Häuser Godesbergs hinter sich hatten, brummten die Tiefflieger - Gottseidank - über ihnen, und sie bekamen es mit der Angst und liefen nach Hause. Stell Dir vor, um was für eine Aufregung ich gekommen bin.

Hast Du das Geld bekommen? Kannst Du nicht mal wieder einen Kurzurlaub oder eine Kurierfahrt ergattern? Man könnte an Ort und Stelle auch die evtl. Evakuierung besser besprechen.

1000 liebe Grüße und Küsse Deine Lotti.