Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 9. Oktober 1944

den 9.10.44

Mein lieber Mann!

Auch Deine Briefe dauern länger, denn heute kamen die vom 3.und 4. Oktober an. Ich habe mich so über die Zigaretten gefreut, weil ich Deine Liebe fühlte, und ich werde sie auch so rauchen und dabei an Dich denken. Meine Sehnsucht nach Dir wird immer grösser, je schrecklicher die Zeit wird. Wir werden hier auch wieder merklich unruhiger, und ich komme mir vor wie in einer Mausefalle. Ist es nicht möglich, dass Du unter irgendeinem Vorwand ein paar Tage Urlaub bekommst? Du kannst uns dann alle evtl. evakuieren. Merkwürdigerweise schlägt im Augenblick hier das Pendel langsam zugunsten des Weggehens aus, und Volkes Stimme ist ja Gottes Stimme. Es liegt dann wohl in der Luft, dass es nicht in einem Überrennen gemacht wird, sondern dass um jeden Fußbreit Boden gekämpft wird. Und da ist man lieber nicht dabei.

Oder vielleicht gezwungermaßen. Was sagst Du zu dem Artikel in der 'Kölnischen', den ich beilege? Dazu passt, dass der RAD alle, die ihn früher abgeleistet haben, 'auf Kriegsdauer aus Gründen der Selbstverteidigung' einberuft. Lisbeth hat auch eine Meldekarte bekommen, andere schon den Gestellungsbefehl. Es kann sich ja wohl nicht um eine Arbeit in kriegswichtigen Betrieben oder kinderreichen Familien handeln, denn diese jungen Mädchen, die jetzt wieder eingezogen werden, kommen da durchweg aus Rüstungsbetrieben. Es kann also nur etwas sein, was noch wichtiger ist als Rüstung. Könntest Du Dir vorstellen, dass ich organisiert würde zur Verteidigung? Und es scheint also schon so vorbereitet zu sein, dass im Handumdrehen diese Sache ins Rollen gebracht wird. Der Gedanke ist mir grauenhaft, und das hat wirklich nichts mit Vaterlandsliebe zu tun. Ich

kann doch keine Menschen töten, aber wer weiß, was von uns noch verlangt wird.

Ich habe eben die Kinder ins Bett gebracht. Was für eine schöne Arbeit ist es doch und wie lenkt sie von all dem anderen so glücklich ab. Denn ich war doch sehr erregt über diesen Artikel, weil hinter ihm doch etwas zu stehen scheint, was sehr ernst genommen werden muss und was grauenhaft ist.

Ich komme eben wieder herauf. Eben musste ich die Kinder Hals über Kopf aus dem ersten Schlaf reißen und sie ohne Pantoffeln und Jäckchen in den Keller schicken, denn massenhaft brummten die großen Bomber über uns dahin, und ich hätte sie ja liegen lassen, wenn die Flak nicht geschossen hätte und ich mit einem Notwurf rechnen müsste. Die Gören haben gemauzt und wollten nicht aufstehen, es war schrecklich. Omi Hechtle ist auf einmal dem ganzen Schrecken nicht mehr gewachsen und fängt an, die Nerven zu verlieren. Harald, ist der Volkskrieg die 'Neue Waffe'? Denn wo bleibt sie, fragen wir uns immer schmerzlicher.

Übrigens beginnt doch auf einmal eine merkliche Abwanderung von Leuten. Ich möchte auch am liebsten los, aber allein kann ich mit den Fünfen und der alten Omi nicht los, und allein bis Hessen brauchte ich schätzungsweise anderthalb Tage. Dann müsste auch das Haus versorgt werden und Wertsachen mitgenommen werden. Aber wer nimmt sieben Personen auf? Die N.S.V. wird nicht für mich sorgen, weil kein offizieller Evakuierungsbefehl kommt.

Es wird aber schon wieder gemunkelt, dass es vielleicht dazu kommt und da sagen nun wieder die Soldaten, dass man dann unter allen Umständen vorher

gehen soll, denn mit der Truppe zurückmüssen, ist furchtbar.

Zwischen Bonn und Bad Godesberg baut die OTeine Brücke. Du kannst, wenn Du willst, die Zeitungsabschnitte auch an Schultzens weiterschicken, die interessiert das bestimmt auch.

Vor mir steht das kleine Bildchen vom Jeverer Marktplatz mit Schüttings Wirtschaft. So oft gehe ich da in Gedanken mit Dir und erlebe wieder unsere schönen Jeverer Tage. Ach, mein Harald, wenn wir aus dem ganzen Graus wenigstens uns und unsere Kinder behalten und für die Zukunft zusammenbleiben können, sind wir schon sehr reich, behalten wir ausserdem noch unser Heim, so müssen wir in Zukunft alles, was uns das Leben an Kampf bescheren mag, und das wird ja wohl bei diesen Aussichten nicht wenig sein, tapferen Herzens auf uns nehmen und uns immer bewusst bleiben, welchen Reichtum wir behalten haben.

Die (Päda-) Häuser Unverzagt und Profka und Forsthaus sind geschlossen worden, um Kohlen zu sparen. Die Jungens sind ja nicht mehr da. Nun ziehen die Bewohner alle mit in die anderen Häuser, die an die Pädaheizung angeschlossen sind, Schwingers nach Rektorat, Unverzagt, das sind Fräulein Schmale mit Tante, Nichte und deren fünf Kindern, Houbens mit ihrem Arnold, das Mädchen und zwei Jungen, deren Eltern sie zu Hause nicht brauchen können, nach Konstantia. Und Frau Puppe rauft sich die Haare. Die restlichen Lehrer werden zum Kriegseinsatz geholt und die Hausdamen ebenfalls. Damit wäre unter das Päda fürs erste ein Strich gezogen. Was mit den leeren Häusern geschieht, weiß ich noch nicht.

Und in all dem Krieg fängt Helga an und bastelt Weihnachtsarbeiten und singt ganz leise für sich schon Weihnachtslieder. Sie malt Adventskalender mit Christkindern mit silbernen Flügeln und ist so glücklich, wenn ich sie abends einkuschele.

Jürgen ist von einem köstlichen Übermut und stößt mit seinem Kopf wie ein Böckchen aus lauter Herzensglück. Ulla bekommt öfter Ohrfeigen getachtelt, aber das bricht die Freundschaft nicht. Aber jedes Mal, wenn die Post von Dir kommt, fragt sie, ob wieder was drinstände, dass Du sie holen willst. Und ich solle Dir nur ja schreiben, dass sie nicht weggeht und sich an mir festhalten will. Und dabei hat sie doch die acht Tage nur eine Straße weiter geschlafen.

Heute morgen, als ich in Bett lag und über allerlei nachdachte, ging mir ein Seifensieder auf, weshalb Du nach dem Omnibus nach Niederpleis fragtest und nach den Fähren. Also: beide fahren, mit den Zügen ist das so eine Sache. Von Koblenz bis Godesberg braucht man durchschnittlich sechs Stunden wegen der vielen Umleitungen. Aber wenn ich bloß eine Unterkunft wüsste, machte ich mich vielleicht doch auf.

Ilse Holtgreve meinte, wenn ich nichts anderes wüsste, sollte ich auch dorthin kommen, wo sie ist, es fände sich ein Platz. Sie hat mir die Adresse hiergelassen: Lehrsen über Wittenberg, Mecklenburg. Vielleicht wäre das eine Notlösung für alle, bis man weiter sehen würde. Oder soll ich besser das Haus festhalten? Wüssten Salvinis in Garmisch wohl etwas? Wenn es irgend ginge, möchte ich nicht bei jemand wohnen, sei es Verwandter oder Bekannter, sondern für die Räume zahlen.

Bei Schultzens fielen diese Hemmungen weg. Thea hat uns sehr lieb eingeladen, und sie würde auch sicher die Kinder bei ihren Bekannten verteilen können, wenn sie uns nicht alle unterbringt. Aber kriegt Stettin noch mehr Angriffe? Und in der Zeitung steht heute, ganz groß, dass Sowjetpolen seinen Anspruch auf Stettin erhebt, falls die anderen gewinnen. Hätte Lenchen nicht in Frielendorf bei Bauern ein paar Räume für mich? Das wäre auch nicht dumm.

Weißt Du, ich hätte Hemmungen, in Lenchens Räumen länger zu wohnen. Wenn ein Kind eine Schramme an die Möbel macht, ist das Unglück da. Ich möchte irgendwo ein paar Räume für mich haben. Wie wär's mit Carels? Aber die nehmen wohl nicht fünf Kinder? Am besten wäre es, wir könnten hier Entscheide fassen. Viele, liebe feste Gutenachtküsse, Deine Lotti (die jetzt eine Zigarette von Dir raucht und dabei an Dich denken wird).