Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 9. November 1944

den 9.11.44

Mein lieber Harald!

Ich hatte Dir vor etwa einer Woche ein Telegramm geschickt, denn damals wäre ich am liebsten sofort abgereist. Es war wie eine Epidemie. Frau Rogeler war bei mir und konnte nicht schnell genug fort, Frau Tenter telegrafierte ihrem Mann, Frau Hillenbrand packte, und auf dem Amt sagten sie, es sei mal wieder die reinste Abreiseepidemie. Nun geht die Waage wieder nach Bleiben rüber, trotzdem die Front immer näher kommt. Und die Zeitung schreibt, dass in den nächsten Tagen „der Sturm im Westen anbrausen“ würde, damit der Krieg fertig würde, ehe der Winter kommt.

Wir werden hier hin- und hergerissen. Gehe ich, so geht Haus und alles darin verloren, und wenn nicht verloren, so kommen sofort von Amts wegen andere Leute hinein. Gehe ich nicht, so müssen wir vielleicht Hals über Kopf im Artilleriefeuer weg.

Überhaupt fragen wir uns angstvoll, was die nächste Zeit bringen wird. Die Transporte stocken, man merkt es schon an der Versorgung mit Lebensmitteln. Und vielleicht kommt in Kürze gar nichts mehr. In vier Wochen werden wir hier auf der linken Rheinseite hungern müssen.

Gas haben wir auch nicht, schon tagelang nicht mehr. Licht haben wir manchmal nicht. Siefken sagt, wir bekämen das Licht vom Walchensee, weil das R.W.E. schon lange nicht mehr arbeitet.

Nun muss ich auch meine sehr knappen Kohlen, wir haben dieses Jahr nur die Hälfte von der bisherigen Zuteilung bekommen, verwenden, um auf dem Herd zu kochen. Schuhe werden seit acht Wochen bei unserem Schuster nicht mehr gesohlt und werden es auch in Zukunft nicht.

Dafür hängen überall Plakate: 'Nun erst recht, Kampf bis zum Sieg' usw. Oder: 'Soldaten, Ihr befindet Euch hier in einem Grenzgau voll gläubiger Menschen, die auch schon Bombenteppiche kennengelernt und tapfer überwunden haben. Verderbt

ihnen Stimmung und Haltung nicht durch übertriebene Erlebnisschilderungen von der Front' usw.

Frau Hillenbrand geht nun Montag weg, und ihre Wohnung mit allem drin bezieht ein Architektenehepaar aus Köln. Mich würde ein Weggehen viel eher reizen, wenn ich außer Kleidern alle anderen Dinge zum Haushaltführen mitnehmen könnte, aber so werde ich dann drüben nur als geduldetes und gerne wieder losgewordenes Übel mit meinen fünf Kindern gelten.

Alle paar Tage geht ein Transport von Godesberg los, aber mit der Bahn kann ich nicht mehr fahren, die einzige Möglichkeit ist so ein Transport, der mal von hier, mal von Königswinter oder sonstwo abfährt, je nachdem eine Strecke gerade wieder frei ist.

Mittlerweile sind die Nonnen nun im Päda und seinen Häusern eingezogen mitsamt Priestern. Die Kranken kommen in den nächsten Tagen. Es ist zum Weinen, und wir alle haben es auch getan.

Den Kindern geht es gut. Sie spielen, und wichtiger als der Krieg ist ihnen, dass ich ihnen morgen keine Martinsweckmänner backen kann. Aber ich habe kein Gas.

Vorgestern bekam ich einen Brief von Dir, der viereinhalb Wochen unterwegs war und noch aus Finsterwalde kommt. Wenn ich jetzt bloß wüsste, wie es Dir geht? Bist Du unterwegs nach hier?

Das Schießen von der Front ist so nahe, dass die Fensterscheiben klirren und schüttern. Tag und Nacht dauert es an. Wenn der Feind bei Hürtgen weiter durchkommt, kommt er aber genau bei Godesberg raus, wenn er die Richtung beibehält. Hast Du es auf der Karte gesehen?

Könnte ich Dir doch Schöneres schreiben. Aber es geht wirklich nicht. Wir sind hier so voller Sorgen vor den Kommenden, dass nichts anderes Raum hat. Jetzt sind Mütter mit vielen Kindern doch zu bedauern, besonders, wenn eines Tages das Hungern kommt. Ich sehe es schon auftauchen am Horizont.

Ich hatte gedacht, V2 wäre etwas gegen die Flieger oder für die Front. Nun ist die Hoffnung auch weg.

Deine Lotti