Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 16. März 1943

16.3.43

Mein liebes Lottenkind,

Ich hatte mir diesmal fest vorgenommen, früher zu schreiben und nun sind doch wieder 8 Tage vergangen, ohne dass ich gekonnt hätte: es liegt nicht einmal so sehr an der Zeit, die ich mir sicher hätte nehmen können, es nicht am Übergang an sich. Wenn ich mir jetzt vorzustellen versuche, dass ich vor 10 Tagen noch bei Euch war, so kann ich das garnicht fassen, dass es erst 10 Tage sein sollen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Trotzdem das alles so weit zurück zu liegen scheint, ist mir jedoch alles irgendwie fremd geworden, sodass ich mich stets aufs Neue eingewöhnen muss. Es liegt, glaube ich, daran, dass mir der ganze Betrieb hier innerlich fremd und zuwider ist. Nicht das Soldatsein als solches, sondern der sture Bürokratismus, der so vernunftsfremd arbeitet, der an geistiges Mitgehen beinahe verbietet und nur das Schema kennt. ¾ aller Arbeit, die hier teils in anstrengensten Nachtdienst geleistet wird, ist sinnlos und fordert zur Opposition heraus.

Was mir so langsam darüber immer wieder hinweghilft, ist die Zeit selbst und vor allem Deine Briefe, die das Band zu Euch, dass die Abreise zerreibt, immer wieder neu geknüpft und mein Gedanken wieder Richtung gibt.

Es sind hier z.Zt. wundervolle Frühlingstage und herrlich silbrigen Mondnächte. Dieses Wetter macht mich auch immer etwas rebellisch. Ich möchte stundenlang mich richtig müde laufen und dann

tief und traumlos schlafen. Vor ein paar Tagen konnte ich morgens bei herrlichem Sonnenschein einen schönen Spaziergang machen. Es war herrlich bei Lerchen sang und Sonnenschein in den weiten Marschwiesen, über Kanäle an Mooren vorbei zu wandern. Ich hoffe das Rezept in einigen Tagen erneuern zu können.

Heute ist nun Vaters Todestag. 4 Jahre liegt er schon dort oben auf dem Burgfriedhof und ist doch noch so lebendig. Die Zeit zwischen dem 8. und 16. März jeden Jahres ist seine Zeit bei mir. Ob ich will oder nicht, die Bilder kommen in solcher Fülle, dass ich nichts anderes zu tun brauchte als ihnen nachzuhängen. Das menschliche fällt   so langsam ab und heraus schält sich der Kern, sein goldenes, treues Herz. Er wird mir immer vertrauter und rückt mir immer näher. Sicher ist das ein Teil der Unsterblichkeit, dass langsam verstanden und aufgenommen werden durch die Kinder. Ich spüre etwas von seinem fortleben in mir und ich bin bereit, ihm einen Gedächtnisaltar in mir zu errichten!

Hier die Ebene ist landschaftlich nicht zu anspruchsvoll, wie die alten Welt, aus der ich komme, aber sie hat etwas, woran ich mich nicht satt sehen kann, das sind die Sonnenuntergänge. Es dauert mindestens eine Stunde, bis alle Farbspiele durchlaufen sind. Es ist jetzt 1/2 8 Uhr und längste dunkel aber im Nordwesten stehen noch samtig rote, durchsichtig blaue und kalte grünliche Streifen über dem Horizont, der durch das nahe Meer einen hellen Schimmer hat. Ich beobachte oft heimlich das herrliche Schauspiel, wenn die Sonne

am Himmel in die feine Dunstschicht taucht, die sie von der blendend klaren Scheibe in eine glühende Kugel verwandelt. Dann bekommt alles einen roten warmen Schimmer. Er hängt zwischen den kahlen Geäst der Bäume, er bedeckt den ganzen Himmel und liegt freundlich auf den gelben Wänden unserer Baracke. Das Rot wird immer glühender und dann versinkt die glühende Kugel hinter weitgestreckten Hügeln. Lange blaue Schatten und leichter Dunst liegt in den Boden senken nur im Westen brennt der Himmel noch und es dauert lange bis der letzte rote Schein von der Dunkelheit erstickt ist. Dann liegt schon längst der Silberschein des Mondes über dem weiten Land und in den Sümpfen und Niederungen beginnt es zu brauen (?) und zu dampfen. Jedes Jahr ist man auf das Wunder des Frühlings aufs neue gespannt und aufgeschlossen es wieder und immer wieder zu bestaunen. Die Vöglein singen schon recht fleißig und wenn auch noch keine Frühlingsfarben sichtbar sind so ist doch schon erregend sein Nahen in der Luft zu spüren.

Hier hat sich nicht viel geändert. Ich liege mit Wilhelm L. zusammen und alleine auf einer Bude. Seine Frau kommt Ende Mai wieder (siehe Jever). Mit Herbert Hohle ist auch eine Veränderung vorgegangen. Er strebte doch mit allen Mitteln von St. fort und wollte auf ein Wehrbezirkskommando in der Nähe seiner Frau oder doch zumindest in ein Lazarett. Während meiner Abwesenheit hat er sich nun hier ein Gspusi angeschafft, zu der er jeden Abend hin rennt und nun spricht niemand

mehr von fortgehen oder fortmüssen. Er verträgt das Essen und fühlt sich in Stade recht wohl . Na, mir soll´s recht sein. Dann kann ich wenigstens im Mai oder Juni in Urlaub fahren.

Ich schicke Dir einen Brief von Wiesenthal und Schüll mit. Heinz Schilling hat bisher nicht wieder geschrieben. Ob seine Feldpostnummer noch stimmt. Willst Du mal bei Frau Sch. nachfragen.

Schreibe mir bitte auch sofort, wenn diese Nachricht von Theo bekommt. Dieses Warten in Angst ist schrecklich. Ilse wird wohl jetzt mehr in G. als in Duisburg sein. Was soll sie auch in der Trümmerstadt.

Ich gebe Dir 1000 liebe Küsse und Grüße Dich und die Kinder und die Omis von Herzen
Dein Harald