Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 15. Dezember 1944

15.12.44

Mein liebes Frauchen,

nun bin ich seit gestern an unserem neuen Bestimmungsort. Er liegt süd-südöstlich der Gauhauptstadt, die in ihrem Namen unangenehm an ein Verdauungsorgan erinnert. Unser Ort ist ein Rätsel 1. anderer Ausdruck für 1/2Kilo, davon letzten Buchstaben streichen und durch den 1. Buchstaben des Vornamens meines Vaters ersetzen. 3. daran anhängen deutschen Wort für „town“: Dort (= in Pfungstadt) wohne ich Sandstraße 5 : Schreibe doch bitte mal Einschreibebriefe: Alle Kameraden behaupten; die liefen fast doppelt so schnell wie normal: Unsere Reise hat 3 ½ Tage gedauert, weil alle Zugänge zur Gauhauptstadt durch einen Großangriff zerstört waren. Hier in der Gegend sind auch die kleinsten Orte bombardiert worden. Von meinem neuen Standort fehlt etwa 1/3. Ein Ort in der Nähe, in dem ich übernachten mußte ist halb zerstört. Ich glaube daher auch nicht mehr, daß Godesberg verschont bleiben wird, denn Godesberg ist 4 bis 5mal so groß wie diese Orte. Die Hessen sind ein ungemein gastfreies und herzliches Volk. Als wir im Dunkeln auf der Straße standen und nicht wußten, wie wir weiter kommen sollten, wurden wir von einer Familie unbesehen, ohne darum gebeten zu haben, aufgenommen, bewirtet und beherbergt. Hier haben sie alle Privatquartiere und sind ähnlich herzlich aufgenommen worden. Ich habe ein kleines Zimmerchen mit einem brauchbaren Bett, in dem ich gestern Abend einen Wärmstein fand. Bei ungeheizten Schlafzimmern ungemein zu empfehlen. Heute fand ich warmes Wasch-und Rasierwasser vor, Kaffee mit Pflaumenmus. Ich bin also bestens aufgehoben. Unsere Geschäftsräume haben wir in einer Schule. Unsere Feldpostnummer ist 452400 hgpa (?) Frankfurt/M. Ich hoffe nun bald Post von Euch zu haben. Der postlose Zustand ist besonders in dieser Zeit fast unerträglich. Wie haben sich die Verhältnisse in Godesberg entwickelt? Was hat Hans B. telegraphiert. Wie hast Du Dich bezüglich Meyers entschlossen. Ich habe Meyers natürlich zuerst von Banthins nichts erzählt. Sollten sie doch eine entsprechend große Zahl von Zimmern bekommen, können sie es uns ja nicht übelnehmen, wenn wir uns für das Bequemere entscheiden. Schreibe mir doch bitte mal,

zu welchem Entschluß Du inzwischen gekommen bist oder willst Du Dich auf gut Glück verschicken lassen in das Auffanggebiet? Es wäre ja schön, wenn Du Weihnachten noch zu Hause feiern könntest. Man sieht und hört hier garnichts von Weihnachtsbäumen. Ist das bei Euch auch so? Notfalls muß Lisbeth und Du einen stehlen, denn ohne Weihnachtsbaum dürfen die Kinder nicht sein. Schafft Ihr auch tüchtig Sachen nach Zissendorf. Hier war es in diesen ersten Tagen verhältnismäßig ruhig. Davor war es aber lieblich. Die Gauhauptstadt liegt vollkommen flach. Im Augenblick interessiert sich der Gegner vornehmlich für die Pfalz. Es gibt in diesem Jahr überhaupt keine Herbstpause, ein Zeichen dafür, daß der Gegner unbedingt Schluß machen will. Den Wehrmachtsbericht habe ich schon seit Tagen nicht mehr gehört. Zuerst war ich auf der Bahn und hier passen unsere Radiogeräte nicht auf die Stromstärke. - Eben war ein Abendangriff auf Mannheim-Ludwigshafen und Weinheim. Es hat ganz hübsch geschebbert. Welch neues Unglück mag da noch über viele Menschen gekommen sein!

Ich grüße und küsse Dich herzlich und lieb
Dein Harald