Harald Endemann an seine Frau Charlotte, Februar 1945 (?)

[Februar 1945?]

Mein liebes Lottenkind,

Ich lese immer und immer wieder Deine beiden letzten Briefe. Wer weiß, wann ich wieder welche bekomme, denn nun kommt kein nach Kommando von Pfungstadt mehr, dass welche mitbringen könnte und wer weiß, wann Du erfährst, dass ich nicht mehr dort bin. Früher wäre ich gestorben, wenn ich so lange nichts von Dir gehört hätte., nun hat man sich schon an das lange Warten gewöhnt, wenn nur der Wehrmachtsbericht nicht gewesen wäre. Ich rechne mir alle Möglichkeiten aus, aber es führt zu nichts. Unser Krieg ist trotz aller großen Worte lahm geworden.

Wie lieblich klingen dagegen die Geschichten von den Kindern, die Du schreibst. Ein kleines Weihnachtsbäumchen im eigenen Heim, welch ein Glück! Wie viele Volksgenossen haben es diese Weihnacht nicht gehabt. Ich sehe hier, wenn ich mal einen Blick auf die Landstraße werfen kann, die kleinen und großen Flüchtlingstrecks. Meist sitzen die Leute stumpf und teilnahmlos auf ihren Wagen und sehen ins Leere. In großen Deckenbündel, die die Frauen auf dem Schoß haben, sind die kleinen Kinder eingewickelt. Im wirrem Durcheinander stehen die Hausratgegenstände verschneit auf den Wagen herum. Meist ist auf den Wagen nicht genug Platz für alle Personen, sodass mehrere hinterher laufen. Manchmal kommen ganze ärmere Familien zu Fuß mit großen Bündeln auf dem Rücken und zwischen sich. Die völlige Erschöpfung steht Ihnen in den Gesichtern. Kein Mensch kümmert sich um sie. Wagen fahren an ihnen vorbei, ohne anzuhalten. Sie winken schon garnicht mehr. Wohin wollen alle diese Menschen. Der Weg geht so oder so ins Elend. Wo wird unser Weg hingehen.

Im Casino wird wieder ganz groß gefeiert, die Musik klingt durch den ganzen Bau. Es wird gegröhlt und gesoffen. Unsere Marketenderware muss wieder herhalten. Welch ein Gegensatz! Wie werden sich diese Herren bewähren, wenn der Russe bei uns anklopft. Ich glaube es zu wissen. Ich werde sie auf jeden Fall scharf im Auge behalten. Was helfen aller Aufrufe ja Beschwörungen. Tanz auf dem Vulkan. Wenn wir nach dem Krieg in Godesberg bleiben könnten, werde ich versuchen vom Peta oder sonst von wem ein Stück Land zu pachten. Wir müssen uns damit so unabhängig wie irgend möglich machen. Daß Du Schultzens die 1000 Mk. Überwiesen hast, ist mir recht. Hast Du denn aber auch genügend flüssige Mittel, um im Fall der Not genügend Geld wenigstens für die erste Zeit zu haben? Wahrscheinlich ist ja alles Unsinn, was ich hier erzähle. Es fehlen vorerst alle Voraussetzungen.

1000 liebe Küsse
Dein Harald