Ursula Lindemann an Lotti, 22. Juni 1943

[1.7.43]

Köln, den 22.6.43.

Meine liebe, liebe Lotti!

Du hast mir eine riesige Freude mit Deinem Urfaust gemacht, den ich heute erhielt, und ich möchte Dir sehr dafür, nebst Deinem lieben Brief danken.

Wie leid tut mir, daß Ihr auch so schreckliches Wetter habt. Auch bei uns hier regnet es, außer letzten Sonntag, unaufhörlich. Donnerstag beginnen endlich die ersehnten, so schändlich verkürzten Ferien. Es ist ein Glück, denn bald wäre ich aus der Haut gefahren, dieses ewige Prüfen, Arbeiten schreiben und weise Reden über die Versetzung und Oberstube halten, war nahezu zum verrückt werden. Vorigen Donnerstag hatte diese Pisakerei ihren Höhenpunkt erreicht. Wir kamen alle hundemüde nach dem ollen Angriff nachmittags bei schwüler und feuchten Wärme zur Schule. Die Meisten hatten in dieser Nacht nur wenig geschlafen. In der 3. Stunde begann unsere Mathematik Lehrerin uns auf Herz und Nieren zu prüfen, und als sie bei allen nur mangelhafte Leistungen erzielte, diktierte sie uns wutschnaubend eine unerhört schwere Arbeit, die uns als letzte Chance für das Zeugnis helfen sollte. Die anderen Klassen

hatten nach der 3. Stunde frei bekommen, nur wir Unglücklichen mußten noch aushalten. Ach Lotti, es war einfach entsetzlich. 3 ½ Stunden haben wir daran herumgemurkst, - leider mit geringem Erfolg, was ja garnicht anders zu erwarten war. Am abend war ich vollkommen erschlagen, und verkroch mich bald mit schlechtem Gewissen ins Bett.

Donnerstag werden wir außer den Ferien, trauriger weise auch noch die Zeugnisse erhalten, und die werden dann wohl einige Überraschungen bringen (Mathematik!). In den anderen Fächern vermute ich, fast überall gestiegen zu sein.

Alarm haben wir jede Nacht und des Tags auch immer 3-4 mal, aber das stört uns nicht weiter, wir haben uns schon richtig daran gewöhnt. Am Sonntag war es allerdings recht unangenehm. Brigitte und ich waren weit weg gefahren, als plötzlich Alarm losging und es bald darauf heftig zu schießen begann. Zum Glück waren wir auf dem Heimweg und hatten es nicht mehr all zu weit. Als wir mit Sturmeseile Marienburg erreichten und die Parkstraße runter rasten hörten wir 2 Bomben fallen. Wir hatten beide ziemliche Angst wegen der Splitter und kamen vollkommen außer Puste bei uns an. Der Himmel war voller Flakwölkchen, zwischen denen sehr hoch der Flieger zu sehen war.

In Köln liegen noch ungeheuerlich viele Zeitzünder, die jetzt nach und nach krepieren.

Leider ist Klaus nun nicht mehr bei uns, er ist am Donnerstag mit einem Krankenwagen ins Lazarett abgeholt worden. Es ging ihm immer noch nicht besser. – Ich mußte eben unterbrechen weil ich auf dem Grundstück Kirschen ernten sollte. Das war natürlich herrlich. Ich saß in den höchsten Zweigen und futterte mich erst einmal rund um satt. und dann kam der Korb dran. Mutti stand händeringend drunter und flehte mich an, um Gotteswillen nicht höher zu steigen.

Im Garten blühen schon die Chrisanthemen und der Türkenbund, die eigentlich im September oder Oktober ihre Blütezeit haben. Uns allen kommt dies recht schleierhaft vor, wie das mit rechten Dingen zugehen soll.

Liebe Lotti, nun komme ich mit einer Bitte. Könntest Du nicht in Deinen Ferien für einige Tage nach Köln kommen? Ich würde mich ja so sehr freuen, denn Du fehlst mir immer mehr. Besonders des Abends wenn ich oben in unserem Zimmer liege, denn ich schlafe ja noch immer hoch oben weil es dort so luftig ist, fühle ich mich immer recht einsam. Ich schimpfe dann meistens sehr mit mir, aber das macht meine Stimmung nicht gerade besser. (Du wirst nun gewiß denken ich sei dumm.) Viele Grüße an Gisela und an Deine Mutter, aber sei Du besonders gegrüßt von Deiner Ulla.