Ursula Lindemann an Lotti, 24. Dezember 1943

Heilig Abend. 1943

Meine Lotti,

Nun ist Heilig Abend. Draußen ist es kalt, und der Wind pfeift durch die Bäume. Ich denke an Dich, wie es bei Euch wohl sein wird. Jetzt sitzt Du gewiß mit Deiner Mutter und Gisela gemütlich im Wohnstübchen zusammen, der Tannenbaum in der Ecke brennt und im Radio erklingen leise Weihnachtslieder. „Hohe Nacht der klaren Sterne“. Und dazwischen ruft der Kuckuck die Stunde an. Sicherlich hast Du vorhin auch Les Prèludes von Liszt nach der Weihnachtsrede von Dr. Goebbels gehört. Ich kann mir dies alles so gut vorstellen.

Ich sitze hier in meinem Zimmer und müßte eigentlich schon längst im Bett liegen, da es halb zwölf ist. Aber ich kann jetzt nicht. Als wir vorhin an unserem Tannenbaum standen und im Radio gerade der schöne 2. Satz aus dem Bruchschen Violinenkonzert erklang, den ich so sehr liebe, wäre

ich am liebsten bei Dir gewesen und hätte mich ausgeweint. Ich kann diesen Augenblick nicht vergessen. Die Eltern standen da und hielten nur mit Mühe ihr Weinen zurück, und ich daneben und fühlte mich unsagbar hilflos und totunglücklich. Im Wohnzimmer haben wir Bobs Bild, das Schmidt-Chevalier uns nachträglich gemalt hat, an der Wand mit einem kleinen Tannenzweig bekränzt, und darunter stehen die Bilder von Hans und Klaus und zu beiden Seiten eine brennende Kerze. Ach, Lotti, ich kann Dir garnicht das alles schreiben, es war so traurig. Jetzt, da ich allein bin habe ich mich auf mein Bett geworfen und weine sehr.

Nein, ich kann jetzt nicht mehr schreiben, ich bin zu müde.

Gute Nacht meine liebe Lotti.