Ursula Lindemann an Lotti, 27. Mai 1944

Köln, den 27.5.44.

Liebe Lotti,

ich sitze hier im Garten in der Sonne und genieße den ersten herrlichen Sommertag.

Leider ist es nicht so ruhig und ich bin nicht so ungestört wie ich es mir eigentlich wünschte, denn über uns kreisen schon den ganzen Nachmittag einige Aufklärer. Es schießt immerzu etwas, aber ich hoffe, daß sie nicht ausgerechnet in unseren Garten eine Bombe werfen und bleibe vorläufig getrost in der Sonne sitzen.

Gestern abend bin ich nun heil und sicher in Köln angekommen und habe am Bahnhof gleich Deinen Brief an Maria eingeworfen. Vor dem Bahnhof ergatterte ich zu meiner Freude noch einen herrlichen Buschen Maiglöckchen,

den ich den Eltern mitbrachte.

Zu Hause kam ich schließlich recht müde an und überraschte alle. Riesig habe ich mich gefreut, daß Hansel noch da war und noch bis Dienstag bleiben kann. Wir zwei haben auch gleich am Abend einen langen Spaziergang gemacht, und er mußte mir beichten, was er in der Zwischenzeit alles angestellt hat. – Leider sind in den 8 Tagen, die ich weg war auch Dinge geschehen, die mich sehr bedrücken. Am Dienstag werden sämtliche Kölner Schulen geschlossen und kommen dann wohl auch bald fort. Für den Gau Köln-Aachen ist das Sudetenland und Schlesien vorgesehen. Aber nur die 6-14 jährigen kommen vorläufig weg, was mit uns Älteren geschieht, wissen wir noch nicht. Es ist scheußlich wenn man solch einer Ungewißheit entgegen lebt. Vater hat gleich für Brigitte v. Rolden und mich an die Hermann-Lietz-Schule geschrieben,

aber ich glaube und (hoffe!) bestimmt, daß wir dort nicht mehr ankommen werden. Nun schüttelst Du bestimmt wieder den Kopf über die unvernünftige Ulla. – Aber weißt Du, ich würde gewiß mit großer Freude hinfahren, vor allem auch mit Brigitte, wenn wir nicht um zu Hause solche Sorgen haben müßten. Und Du kennst mich ja genug, um zu wissen, daß ich mir in der Ferne mehr Sorgen mache und mich aufrege als hier in unserem luftgefährdeten Köln, und wenn es noch so schlimm zugeht. Brigitte selbst schreibt mir immer wieder, wie schrecklich es sei, im Radio von den Angriffen zu hören und dann hilflos ohne irgendwelche Nachrichten dazusitzen. -

Auch sonst sind allerlei Dinge passiert, mit denen ich erst noch richtig fertig werden muß. Vorläufig bin ich noch völlig verwirrt und uneinig mit mir selbst. Ich weiß einfach nicht mehr aus und ein. – Bitte, liebe

Lotti, sei nicht böse, daß ich mich Dir jetzt nicht anvertraue, aber erstens kann ich es noch nicht und zweitens sollst Du jetzt nur für Dein Physikum in Anspruch genommen werden und Dich nicht mit den inneren Angelegenheiten Deiner Ulla abmühen. Und Du weißt doch, wie lieb ich Dich habe.

Heute habe ich Maria unter vielen Schwierigkeiten angerufen. Es dauerte sehr lange bis ich endlich Anschluß bekam. Sie freute sich, von Dir zu hören. Der kleine Wolf sprach immerzu dazwischen und so konnten wir uns nur schwer verständigen. Den beiden, Wolf und Jorg geht es gut. Wolf lernt jetzt eifrigst seine Hilfszeitworte und Jorg sei ein kleiner Friedensengel. Auch ihr selbst geht es gut, aber das hat sie alles, glaub‘ ich, Dir in einem langen Brief vor einigen Tagen geschrieben. -

Sind Bartels gestern gut oben bei Euch angekommen? Nun wirst Du ja zu Pfingsten

bestimmt auch so herrliches Wetter haben und in Ruhe draußen in der Sonne arbeiten können. Auch ich werde die Pfingsttage dazu benützen und tüchtig alles Versäumte nachholen. Heute habe ich schon damit ordentlich angefangen und den ganzen Tag hier draußen gesessen und Französisch und Geschichte gelernt. Dabei habe ich mir einen wüsten Sonnenbrand geholt und glühe jetzt wie ein Bratapfel.

In der vergangenen Nacht mußten wir natürlich, mir zum Empfang 2 Stunden im Keller zubringen und auch heute morgen hatten wir 3 x Alarm. -

Inzwischen ist die Sonne untergegangen und zum Glück sind auch die Aufklärer wieder fort. Hoffentlich haben sie nicht zu viel photographiert.

Grüße bitte Deine Mutter schön von mir.

Dir viele Grüße von Deiner