Ursula Lindemann an Lotti, 17. Oktober 1944

Köln-Marienburg, den 17.10.44.

[5.11.]

Meine liebe Lotti!

Endlich habe ich etwas Ruhe, die ich schnell ausnützen will, um Dir zu schreiben. Augenblicklich habe ich meine Nachtwache von 10-12 Uhr. Wir müssen alle jede Nacht unsere 2stündige Nachtwache machen, denn die Sirenen gehen nicht. – Heute hat es wieder gut gegangen. Wir können es kaum fassen, daß wir noch leben und unser Haus haben. Es wird langsam wirklich etwas zu viel. Man lebt in einem dumpfen Druck von heute auf morgen und hofft und hofft. Lotti, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es hier zugeht. Die Angriffe dauern jetzt immer so lange. Immer

2 und noch mehr Stunden lang dieses Rauschen, Pfeifen und herunterprasseln zu hören, macht einen einfach wahnsinnig. Man stumpft jetzt gegen alles so ab. – Ich war heute bei dem schweren Angriff im Fort 8 beim Kartoffelschälen. Wir hatten dort keinen Luftschutzkeller, sondern wir mußten in einem hohen Gang stehen, der keineswegs sicher war. Brigitte und ich waren zusammen. Wir haben uns ganz eng in eine Ecke geduckt und uns verzweifelt gegen den so furchtbar bebenden Fußboden gestemmt. Der Luftdruck pfiff durch den Gang. Rund um’s Fort ist eine schwere Bombe neben der anderen herunter gekommen. Solch eine Angst wie heute haben wir noch nie gehabt. – Ich glaube kaum, daß Du meine Nachricht nach den letzten 3 Angriffen von Samstag und Sonntag bekommen hast. Darum schreibe ich schnell noch einmal auf, was alles passiert ist: Wir haben 5 schwere Bomben in nächster Nähe vor das Haus bekommen.

Eine auf unser Plätzchen in den „viel gepriesenen“ Misthaufen, eine andere unter unsere Akazie auf der Wolfgang-M.-Str. Die Akazie ist auf unser Haus gestürzt. Und noch eine auf die Straße und einige in den Garten von Proffessor Bertram. Außerdem sind noch 10-15 Bomben oben u. in die anderen Gärten der Proffessoren gefallen. Die Marienbergerstr. hat bis zur Ulmenalle vom Rhein aus sehr viel mitbekommen. Gerling hat gebrannt. Auch die Lindenallee sieht schlimm aus. Euer Haus steht. Bei Bartels ist heute viel in der Umgebung passiert, aber das Haus steht noch. Bei Fräulein Monscheuer hat das Nachbarhaus einen Volltreffer. Sie mußte, glaube ich, räumen, und ist gegenüber

bei Nachbarn untergekommen. Hoffentlich hat es heute bei ihr gut gegangen. Die Mühlheimerbrücke liegt im Wasser. Unsere Brücke ist heute so schwer getroffen, daß sie vorläufig unfahrbar ist. Unten am Rhein ist viel passiert. Wir hatten in unserem Haus 1 Brandbombe, die im Treppenhaus gebrannt hat. Wir konnten sie während des Angriffes löschen. Eine andere Brandbombe lag unentzündet auf dem Dach. Unser Dach ist natürlich sehr beschädigt. Es regnet sehr durch. – Die letzten Angriffe haben sich alle hauptsächlich gegen den Süden der Stadt konzentriert. Nirgendwo ist Wasser zu bekommen. Licht und Gas sind natürlich auch nicht da.

Es ist eine schwere Zeit, und manchmal meint man wirklich, es ginge nicht mehr weiter. Aber man muß sich aufraffen, es wird alles noch gut werden. -

Wenn es mal zu unerträglich wird und man es kaum noch aushalten kann, dann denke ich immer

an Dich und an ein Wiedersehen mit Dir, das vielleicht doch noch einmal wiederkommen wird. Und das hilft wirklich und macht auch Mut. Wir müssen ja jetzt durchhalten, aber es ist bitter schwer. -

Habt Ihr von Hansa endlich Nachricht? Von Klaus ist immer noch keine Post da. Die letzte Nachricht, die wir von ihm haben ist vom 12.8. Hansels letzter Brief ist vom 30.9. Wir machen uns um beide Sorgen.

Liebe Lotti, nun rede ich die ganze Zeit von unseren Sorgen und Kümmernissen hier, und habe noch garnicht nach Deinem Physikum gefragt. Du wirst nun mitten drin stecken und bestimmt einen recht schönen Erfolg haben. Hoffentlich lassen Euch die Flieger in diesen Tagen etwas in Ruhe, so daß Du

Dein Examen in Ruhe ablegen kannst.

Was wirst Du danach machen? Hast Du meinen Brief, in dem ich Dir schrieb, Du sollest nicht in die Rüstung gehen, erhalten? Bitte, tue es nicht. Ich würde mich so freuen, wenn Du weiter studiertest. – Langsam naht sich meine Nachtwache ihrem Ende zu. Wir hatten nur einmal Voralarm bis jetzt. Hoffentlich erhälst Du diesen Brief.

Wie geht es Deiner Mutter. Bitte grüße sie und Gisela schön von mir.

Dir, liebe Lotti, wünsche ich alles Gute.

Und ich behalte Dich lieb.

Deine Ulla.