Ursula Lindemann an Lotti, 5. November 1944

Köln, den 5.11.44.

[15.11.]

Meine liebe Lotti!

Heute sind wir den ganzen Tag nicht zur Ruhe gekommen. Den ganzen langen Tag von morgens früh 3 Uhr an hatten wir Vollalarm. Wie oft wir runter in den Keller gerannt sind kann man garnicht zählen. Jetzt sind nur noch einzelne Feindmaschinen da, die uns aber nicht weiter stören. Es sind heute auch wieder ziemlich viele Bomben gefallen. Dazu hört man die Front so deutlich wie noch nie. Alles rappelt und bebt und die Türen springen immer wieder auf. Vermutlich hat der erwartete Großangriff begonnen. Die Front muß sehr nahe gerückt sein. Wir rechnen damit in den nächsten

Tagen schon unter Artilleriebeschuß zu liegen. Für den Fall müssen wir ganz in den Keller ziehen. Ich bin gespannt, wie alles wird. Wenn es irgendwie möglich ist, wollen wir hier aushalten, denn in Haltern kämen wir doch vom Regen in die Traufe, da vor einigen Tagen auch Haltern schon bombardiert worden ist.

Köln ist allmählich eine tote Stadt. Wo man hinkommt, überall trifft man die Menschen mitten in ihren Abreisevorbereitungen an. Auch aus unserer kleinen Kolonie sind schon viele fort. Außerdem wird einem das Hierbleiben beinahe unmöglich gemacht, da nur noch Berufstätige Lebensmittelmarken bekommen sollen. – Drüben bei Meißner geht eine Fuhre nach der anderen Fort. In der Stadt wird nicht mehr gearbeitet, daß wir Wasser oder

Licht bekommen, die zertrümmerten Autos und Straßenbahnen bleiben auf den Straßen liegen und die Schienen werden nicht mehr in Ordnung gebracht. Es ist ein trostloses Bild. Tagtäglich gehen große Transporte von den großen Bunkern ab nach dem Osten des Reiches. Ich glaube wir müssen schon notgedrungen fort, da wir ja kaum noch was zu essen bekommen. -

Liebe Lotti, wie geht es Euch? Hoffentlich seid Ihr alle gesund und Ihr lebt noch einigermaßen in Ruhe. Ich denke so oft an Dich und bin dann ganz nahe bei Dir. Ich glaube jetzt ist auch das letzte Schöne, was wir noch hatten für uns aus: Die Post. Es kommt ja nichts mehr nach Köln rein. Meine Briefe an Dich kann ich ja öfters irgend jemandem mit-

geben, damit sie außerhalb der Stadt und unseres Gaues irgendwo eingeworfen werden. Hast Du den dicken Brief mit den Nachrichten vom 29, 30 u. 31. erhalten und das kleine Päckchen vom 4.11.? Morgen will ich noch einmal bei der Post mein Glück versuchen. Hoffentlich ist doch etwas jetzt durchgekommen.

Was wird nun aus Dir? Bist Du schon irgendwo eingesetzt? Hoffentlich hast Du einen schönen Einsatz, indem es Dir vielleicht doch möglich ist weiter zu studieren. – Gerade habe ich mir ungeschickter Weise meine Haare an der Petroleumlampe angebrannt. -

Ist Gisela auch im Einsatz? Und wie geht es Deiner Mutter? Habt Ihr noch gute Nachricht von Hansa? Wo sind eigentlich Bartels? Frl. Monscheuer ist, glaub‘ ich, auch nicht mehr in Köln?

Sei nun recht lieb gegrüßt und nimm einen innigen Kuß von

Deiner Ulla.

Am abend.

Wie soll man nur bei dem Getöse draußen einschlafen. Wir haben einen sehr starken Westwind, und da hören wir die Front so deutlich, als stände der Feind schon vor den Toren Kölns. Deshalb schreibe ich Dir noch ein bischen. Die Flieger lassen uns heute abend scheinbar in Ruhe. Wir hatten bis jetzt (22 Uhr) erst 2 x Voralarm.

Vorhin in der Stunde von 18-19 Uhr, in der im Radio immer das große Konzert ist, habe ich auf dem Flügel alle meine schönen alten Stücke gespielt. Meine Mondscheinsonate, die Pathetique und noch andere Sonaten v. Beethoven, meine schönen Schubert-Impromptus und die Mozart-Sonaten. Ich konnte alles noch ganz gut und habe mir regelrecht eine kleine Feierstunde gemacht. Denn meine Musik vermisse

ich halt doch sehr. Ich habe auch Deine Stücke gespielt. Wärest Du doch dabei gewesen. -

Der anhaltende Geschützendonner ist unheimlich und grausig. Über der Stadt liegt ein roter Schein, entweder von alten oder neuen Bränden.

Ich will jetzt trotz des Kraches versuchen zu schlafen, denn ich bin sehr müde. Wir haben vorhin alle unsere Fenster mit Brettern zugenagelt, damit es etwas wärmer im Haus wird. Allerdings sitzen wir jetzt immer in einer recht düsteren Beleuchtung, aber das ist gleichgültig.

Nun komme ich noch mit einer Bitte an Dich. Könntest Du wohl unten im Dorf bei Fr. Sandel auf der Talstraße versuchen Vogelfutter zu bekommen? Ich habe nichts mehr und werde wohl auch nichts mehr bekommen. Schicke es dann bitte an die Adresse, die auf dem Zettel steht. Schlafe nun gut, liebe Lotti. Es grüßt Dich in inniger Liebe wie immer Deine Ulla.