Lotti an Ursula Lindemann, 9. November 1944

Schriesheim, d. 9.11.44.

Meine liebe Ulla,

da ich mir im Augenblick garnicht im Klaren bin, wo Dich mein Brief erreichen wird, schreibe ich heute an Deine neue Anschrift, (nachdem ich Dir am 5.11. noch einen Brief nach Köln sandte) in der Hoffnung, daß Ihr Köln nun verlassen habt, so traurig dies wiederum auch ist, und Du mit den Eltern aus dem Schrecken und auf die Dauer doch untragbaren, schweren Lebensbedingungen heraus seid.

Meine liebe, tapfere Ulla, ich weiß ja, daß dies alles ein sehr trauriges Schicksal für Dich u. die Deinen ist und fühle es mit, da wir ja auch unsere Heimat damit

verlieren. Aber wir beißen gerne weiter die Zähne zusammen, es muß u. wird eines Tages wieder anders werden.

Vorgestern erschien ganz plötzlich und unerwartet mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, von der Front für ein paar Stunden bei uns. Er saß ja damals in Bordeaux und ist trotz aller Tücken und Schwierigkeiten aus Frankreich herausgekommen. Er strahlte so von Zuversicht und Hoffnung, daß ein Abglanz davon zurückblieb, als er ging, und wir nun auch wieder zuversichtlicher in die Zukunft blicken. Die Sorge um Hansa hatte uns fast zu Boden gedrückt. Er befand sich ja an der Scheldemündung am südlichen Scheldebrückenkopf, nordöstlich von Brügge. Als wir seinen Brief vom 10.10. (es ist bisher der letzte) erhielten, indem er uns

schrieb, daß auch Ihnen das Schicksal von Cherbourg, Brest, Le Havre usw. nicht erspart bliebe und am 3.11. das OKW meldete, daß der Brückenkopf der Übermacht der Feinde erlegen sei, war unser ganzer Mut dahin und wir waren ganz verzweifelt. Nun hoffen wir alle drei im Stillen, daß ihn das Soldatenglück nicht verlassen hat. Wievielen geht es ähnlich u. auch Du und die armen Eltern tragen dasselbe Leid u. klammern sich an dieselbe Hoffnung. Ja, ja, liebste Ulla, man muß heute sein kleines Herz fest, fest in der Hand halten, „die Freiheit und das Himmelreich gewinnen keine Halben“ heißt es so wirklich und wahrhaftig. Ich glaube im Grunde auch weiter an ein gutes Ende für uns. Das muß man u. kann man auch.

Deine kleine Zeichnung hat mir wieder sehr gut gefallen. Sie ist so lebendig u. fein. Hoffentlich kommst Du bald wieder in Ruhe u. Gleichmaß dazu, diese kleine Fähigkeit weiter auszubauen.

Ich sitze noch hier und warte auf meine Einweisung in das Polizeilazarett hier in Sch. Der Chefarzt will mich bei sich einstellen und ins Klinische einarbeiten. Studieren dürfen wir ja nicht weiter. Aber diese Arbeit könnte für mich sehr produktiv werden, sodaß ich recht zufrieden sein darf. Nächste Woche wird es sich entscheiden, sodaß ich im Augenblick noch ein recht bequemes Leben führe. Aber daß ich eine so bequem gelegene Arbeitsstätte habe, ist auch sehr, sehr viel wert. Es grüßt und küßt Dich, meine liebe, kleine Ulla, Deine Lotti,

(nun respektable Cand. med.)