Rudolf Looks an Horst Schmitt, 29. Mai 1942

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Bocholt, den 29.5.42

Mein lieber Horst!

Nun bist Du schon geraume Zeit von unserem schönen Bocholt fort und machst in der Kinderlandverschickung Deinen Dienst. Zu unserem großen Bedauern muß ich nun feststellen, daß die Entfernung zwischen Bocholt und Nagold beträchtlich ist, d. h. daß Dein Freund Rudolf Dich schon vergessen hat! Vergessen, ganz und gar vergessen, nichtwahr? Lieber Horst! Ich habe einstmals auch meinem treusten und besten Freunde, dem jetzigen Flakkanonier Ed Lhota in einem recht langen Brief folgenden Satz geschrieben, ja schreiben müssen: „Getrost mein Treuer! Ein Rudolf Looks vergißt seine Freunde nie!“

Ich möchte Dir auch diese Worte zurufen und Dir versichern, daß ich täglich an Dich denke und mit Jochen oder Heinz gern und gut von Dir rede! Ich bitte aber trotzdem, mir zu verzeihen, daß ich Dich folgende auf den Antwortbrief habe warten lassen. Jedenfalls haben mich Deine beiden Karten sehr erfreut und ich möchte nicht verfehlen, Dir, lieber Horst, von ganzem Herzen für diese Freundschaftsbeweise auf das herzlichste zu danken.

Nur an Deiner letzten Karte hat mir einiges mißfallen. Du machst mir wegen einer ge-

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wissen Person Vorwürfe. Du hast Dich, dessen bin ich gewiß, sehr gewundert, von Hilde Terweide einen Brief erhalten zu haben. Laß mich Dir Ursache und Anlaß zu diesem Briefe schildern: Wie Du sicherlich wissen wirst, muß ich öfters zur Teutonenstraße (!), weil ich dort zwei Jungenschaftsführer wohnen habe. (!) Kurz und gut! Ich traf eines schönen Abends, es mögen drei Wochen her sein, Hilde Terweide. Ich grüßte sie nicht, als sie an mir vorbeikam, sondern grinste sie von der Seite an. „Anstandsbuch Seite 18-20“, wagte ich ihr höhnisch zuzuzischeln. Darauf ging sie ein. Ich, hielt ihr die Telefongeschichte unter die Nase, sie jedoch lächelte überlegen und erklärte, daß es für mich doch eigentlich besser aussähe, wenn ich Bekannte grüßen würde und da wir doch eigentlich nichts mit- bzw. gegeneinander gehabt hätten, für mich Pflicht und Schuldigkeit und allein bloßer Freundschaftsdienst sei. Ich sah darauf die Gelegenheit, ihr den Grund meines Nichtgrüßens höchst unzweideutig zu eröffnen, als sehr willkommen an und hielt ihr all das, was man mir über ihre Person erzählt, in buntesten Farben vor. Sie verteidigte sich nicht, im Gegenteil, sie beichtete mir ihre „Laster“, daß sie als Mädchen zwei- oder dreimal geraucht, einige wenige Male des Abends mit Jungen in Lokalen gesessen habe und spät nach Hause gekommen sei, daß sie öfters im Dunkeln mit jungen Herren spazierengegangen und verschiedentlich das Le-

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ben nicht sonderlich schwer genommen habe. Dieses alles, Leichtsinn und nicht Boshaftigkeit, bereue sie aus tiefster Seele. Sie erklärte mir, recht wenig wohlwollende Freunde zu besitzen, wohl aber Bekannte in rauhen Mengen, die ihren Namen herunterzusetzen in jeder Hinsicht bemüht seien. Daß ihr Name der Bocholter Bevölkerung zur Genüge bekannt sei, sei nicht ihre alleinige Schuld und sie glaube, (dabei weinte sie fast) daß der schlechte Ruf kaum noch zu verwischen sei. Am meisten schmerze sie die Tatsache, daß Du von den erzählten Geschichten weißt und sie glaube, daß auch Du sie verachten würdest, zumindest die vergessen oder sie „zum alten Eisen“ gelegt hast. Der Gedanke, Deiner Freundschaft nun verlustig zu sein, quäle sie täglich. Sie habe Dich sehr gern gehabt und trotz all dem, was vorgefallen, Dich nicht vergessen könnte. Sie habe sich zu dem Entschluß durchgerungen, all das Vergangene abzustreifen, sich mit keinem Jungen mehr einzulassen und ein ganz neues, ernsthaftes Leben zu beginnen. Sie beschwor mich, von ihrem Entschlusse niemandem auch nicht Dir etwas mitzuteilen. Sie wolle jetzt alles tragen, leiden und dulden, aber keinen Anlaß zu neuem Gerede geben. Sie habe sich klar für einen einzigen Freund entschieden für den, den sie ganz allein, als den einzigen liebe: für Horst, für Dich mein teurer Freund. Sie mochte es garnicht sagen; fast schämte sie sich. Auch zweifelte sie dran, daß Du Dich „zu ihr herablassen“ würdest, hättest Du doch eine stattliche Auswahl. Sie hoffte aber und gebe Dich für niemanden her, auch nicht für ‚eine‘ Ilse Heynen. Mit diesen Ausführungen flammte ihre Eifersucht auf. Sie bat mich flehentlich, ihr zu erklären, wie Dein Verhältnis zu Ilse sei.

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Ich beteuerte, es sei ein rein dienstliches. Sie jedoch wollte mir nicht Glauben schenken, wenigstens in dieser Hinsicht nicht. Du mußt es ihr schon selbst beteuern, wenn Du sie von dem Gedanken frei sehen möchtest.

Jedenfalls war ich ob ihrer Offenheit sehr erstaunt und schlug ihr vor, Dir doch einmal zu schreiben. Dabei hatte ich nur ihr bestes im Auge weil ich doch der Auffassung war, das die Freundschaft mit Dir sie vor künftigen Dummheiten bewahren wird. Interessant ist von ihren Ausführungen noch die, daß ihre Freundin Ursel Jäger mich nicht ganz vergessen hat. Hilde hat mir von einem Geständnis (Liebe) der Ursel erzählt, als ich ihr versicherte, es würde mir sehr leid tun, wenn Ursel wie sie auf falsche Bahnen gelangt sei. Ich habe dann erfahren, daß sowohl Hilde als auch Ursula im Tennisklub Mitglied seien und mich, da viele unserer Klassenkameraden diesem Sportverein beigetreten, ebenfalls angemeldet. Ich habe mich entschlossen, den Vorschlag, den Du mir kurz bevor Du abreistest, machtest, anzunehmen und so Ursel vor Dummheiten zu bewahren, natürlich unter Ausnutzung der Tatsache, daß sie mich gernhat. Persönliche Ziele verfolge ich hierbei nicht! Du kennst ja meinen Standpunkt! Ich bitte Dich also, mir nicht zu mißtrauen! Ich hätte es nicht verdient!

Nun, lieber Horst! Habe ich recht oder unrecht gehandelt, klug oder töricht? Urteile Du! Ich weiß nicht ob Du den inneren Kampf, den ich in dieser Zeit ausgefochten, recht verstehen kannst, ob Du verstehen kannst, aus welchem Grunde ich der Hilde Deine Adresse gegeben; ob Du meinen guten Willen anerkennst, weiß ich nicht, doch hoffe ich es. Jedenfalls würde ich ihr, wenn ich Horst wäre, wiederschreiben und bescheiden anfragen, ob sie nur deshalb, weil Rudolf Lorks ihr so geraten, geschrieben hätte, oder doch aus einem anderen Grunde.

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Ich bitte Dich nun, in Deinen Briefen besonders sind jetzt Postkarten gemeint, über diese und ähnliche Dinge nicht so offen zu sprechen, da meine Eltern meine Post lesen und sich die buntesten Bilder zusammenreimen würden.

Ich habe nun zu meinem Leidwesen, aus Deiner Karte entnehmen müssen, daß Du krank bist. Ich hoffe, es ist nicht so schlimm und wünsche Dir baldige Genesung. Auch habe ich aus Deinen Karten erfahren, daß Du ein fabelhaftes Lager führst und die Jungens, wie auch Deine ganze Umgebung „in Ordnung“ sind. Selbstverständlich glaube ich, daß Du mit ihnen fertig wirst und „zackige“ Dienste durchführst. Es sollte mich ja auch wundern, und Du müßtest nicht Horst Schmitt sein, wenn es anders wäre. Daß Du ab und zu nach Schema „Halden“[?] vorgehst, nehme ich Dir gar nicht übel, da es lehrreich für Dich und die Pimpfe, werdungsfördernd und unbedingt heilsam gegen geistigen Durchfall ist. Jedenfalls bange ich nicht im Geringsten um Dich!

Hier in Bocholt ist alles noch beim Alten. Wir haben vor einigen Wochen wieder einmal getanzt und zwar nach langer Zeit. Es war ganz prima. Du mußt bedenken, daß an dem Tage ein neuer Kursus, an dem auch verschiedene Mitschüler, wie Edwin Großhardt, Franz Jos. Burgund, Franz Rötters, Kurti Rickert, Bernd Nehling, Heinz Rekers usw. teilnehmen, unter der „persönlichen Leitung „Ihrer Korpulenz„“ begonnen hat. Die Mädchen sind im Gegensatz zu den Jungen sehr stark vertreten. Das Verhältnis ist folgendes: „15 [männl.] : 30 [weibl.].“ (Also jeder Junge zwei Mädel) Es sind aber alles so kleine Mädchen (Klasse 4), die mir natürlich bis zum Bauchnabel gingen; Die „selbstverständlich“ auch!

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In der Schule ist sonst nicht neues, was sonderlich erwähnenswert sein könnte, vorgefallen. Wir haben immer noch den selben alten, faulen, erzfaulen Zauber. Agnes ist immer noch in München. Hoffentlich kehrt sie bald zurück. Ich glaube, ich würde ihr um den Hals fallen. Erlösung von dem „Übel“ bedeutet ihre Rückkunft. „Bubi“, dieses Scheuferl ist nicht mehr auszustehen. „Männebald“ ist jetzt unser Deutschlehrer. Wir haben schon einen Klassenaufsatz bei ihm geschrieben. Ein wundervolles Thema: „Inwiefern hilft die Landschaft mit die Wesensart des Menschen zu prägen?“ Schön nichtwahr? Ich warte mit Spannung auf die Rückgabe der Hefte. (und das Resultat)

Am gestrigen Samstag (vormittags natürlich,) sollten die Sportwettkämpfe der Hitlerjugend durchgeführt werden. Die Sache ist aber ins „Wasser gefallen“, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn es regnete in Strömen. Überhaupt regnet es hier schon ein paar Wochen lang. An Baden ist, außer einem Regenbrausebad, nicht im entferntesten zu denken. Schade!
Gesternnacht war ‘mal wieder nach langer Zeit Fliegeralarm. Ein Tommy hat ‘mal wieder Bomben abgeworfen, und zwar zur Abwechslung etwa 50 Brandbomben. Zum Glück ist aber nicht viel passiert. Nur die ganze Rebenstraße, die halbe Ravardistr. und ein paar Fabriken sind nicht mehr. Es hat gebrannt als ob die Stadt auf einem Vulkan stünde. Noch heute, Sonntagmittag, lagen Rauchschwaden über der Stadt, das Gesellenhaus, die Rentei (weißes Stift) und Vieth sind nebst anderen Häusern ziemlich mitgenommen. Von Voth,

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vom Oepen usw. gar nicht zu reden. Die Fabrik Woltering ist vollkommen niedergebrannt, bei Borgers konnte der Brand bald gelöscht werden. Wir sind die ganze Nacht aufgewesen und haben uns das prachtvolle und doch grauenhaft ernste Schauspiel angesehen. Du kannst Dir denken, welche aufgeregte Stimmung herrschte. In vielen Fällen hat die Geistesgegenwart der Bevölkerung noch größere Schäden verhütet. Bei Rose [?] ist eine Brandbombe ins Schlafzimmer zwischen die Betten von Mann und Frau gefallen. Der Mann hat sie noch im letzten Augenblick ergriffen und durchs Fenster auf die Straße geworfen.

Die Feuerwehr hat wahrlich Wunderdinge geleistet. Ich wußte nicht was geschehen wäre, wenn die Leute nicht so einsatzbereit gewesen wären. Doch aus all diesem kann man nur Lehren ziehen. Schluß nun von diesen Dingen! Wir wollen das beste für unsere Stadt erhoffen und vom allmächtigen ewigen Vater Schutz erflehen.

Lieber Horst ich bitte Dich nun, nicht allzu besorgt zu sein und Dir nicht viele Gedanken zu machen ob dieser Dinge. Denk lieber ab und zu an Deine Freunde und an Hilde, die sich nach einem Bild von Dir sehnt. Verzeih mir bitte nochmals, daß ich Dich solange mit der Antwort habe warten lassen, sei in Deinen Briefen bitte etwas vorsichtig (Du kennst ja meine Eltern,) und schreibe bitte nicht als Unterschrift „H. Schmitt“. Lieber Horst, Du kannst Die nicht denken, wie kalt und zurückhaltend das Freunden gegenüber klingt. Daß Du Schmitt mit Hausnamen heißt,

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das weiß ich nun schon lange genug, daß Du aber „mein Freund Horst“ bist, das muß Du mir auch in der Unterschrift noch beweisen. Doch nun genug des Guten (bzw. des Gegenteils)!!
Erzähle bitte Jochen nichts von dem kurzen Brief den ich Dir geschrieben (ohne sein Wissen), denn er würde mir sicherlich meine an sich schon langen Ohren noch länger ziehen. Verzeih mir bitte die höchst miserable Schrift und streiche mir nicht die orthographischen – und grammatischen Fehler an. Ich hatte nämlich nicht viel Zeit.

Also wünsche ich Dir, meinem lieben Horst, bis zum nächsten Brief alles Gute und Schöne und hoffe, daß Du mir bald auch einmal einen ‚Brief‘ schreibst.

So sei denn auf das Herzlichste gegrüßt von Deinem treuen Freunde
Rudolf.

Heil Hitler!

Herzliche Grüße auch von Jochen, Heinz und den anderen, mehr oder weniger „lustmolchigen“ Klassenkameraden.

Dein Ulle!

N.S. Ilse Heynen wagte es kürzlich zu bemerken, sie könne Dich recht gut vermissen und wisse mit anderen Kameraden genau so gut zusammenzuarbeiten, wie mit Dir. „I‘ soag’s halt wie’s iest, weil i‘ a fescher Kerrl binn!“