„Wohin, das wussten wir nicht. Nur heraus aus dem Dorf.“ - Flucht

„Wir hatten gehört, dass der Russe immer näher kam“, berichtet Astrid Kattagen. Daher habe man in „gedrückter Stimmung“ Zeit gehabt, sich bei frostigen Wintertemperaturen auf die Flucht vorzubereiten, Als besonders schlimm empfinden es die Kuschs, dass die bereits 80 Jahre alte Oma Rosalie Venske sich unter derartigen Bedingungen auf den ungewissen Weg machen muss.

Bevor die Flucht beginnt, gewährt die Familie zunächst noch deutschen Soldaten Unterkunft, denn ganz Langeböse ist mit Wehrmachtstruppen belegt. „Wir hatten auch einen Panzer auf dem Hof. Die Soldaten wollten den Ort verteidigen. So ein Quatsch!“ Tatsächlich ist Langeböse eine der wenigen Ortschaften im Stolper Land, die hart umkämpft ist und bis zum frühen Morgen des 10. März 1945 von deutschen Truppen gehalten wird. In der Nacht zum 9. März heißt es gegen 5 Uhr morgens plötzlich: „Wir müssen raus!“ Diese Anweisung betrifft das ganze Dorf, woraufhin sich viele Einwohner im nahen Wald verstecken.[1] Das hat für viele schlimme Folgen, denn nach Ankunft der Roten Armee, so erinnert sich Astrid Katthagen, seien viele Dorfbewohner in den umliegenden Wäldern erschossen worden.

Familie Kusch ist trotz der beängstigenden Lage erleichtert, denn genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Heimatort verlassen muss, kehrt Vater Hugo vom Volkssturm aus Stolp zurück. Nun hat man endlich einen erfahrenen Wagenlenker und Beschützer. „Da waren wir froh. Papa war wieder da, und da war alles leichter.“ Die jüngeren Geschwister und die Oma werden auf dem Wagen untergebracht, während die 13-jährige Astrid die Flucht mit ihrem Schultornister auf dem Rücken zu Fuß antreten muss. Der ist bis zum Rand mit Brot, Wurst und anderen Lebensmitteln gefüllt.

 

In einem schriftlichen Bericht beschreibt Astrid Katthagen später die familiäre Fluchtgruppe: „Wir flohen mit einem Planwagen, gezogen von zwei Pferden. Darauf saßen meine Großmutter, meine Geschwister, meine Cousinen Marlene und Christa, und meine Tante Anna aus dem Dorf, die mit uns kam. Mein Vater lenkte den Wagen zu Fuß, vom Boden aus. Zu Fuß neben her gingen außerdem meine Tante Hilde, meine Tante Meta, die ebenfalls im Dorf lebte, meine Mutter, mein Cousin Horst, mein Onkel Eduard und ich. Der Wagen war voll beladen mit so vielen Lebensmitteln, wie wir transportieren konnten.“

„Wohin, das wussten wir nicht. Nur heraus aus dem Dorf.“ Mit dieser ungewissen Perspektive verlassen die Kuschs wie so viele andere erstmals Langeböse. Die Unsicherheit wird schnell noch vergrößert, denn dort, wohin sich der Treck bewegt, halten sich nach Auskunft fliehender Wehrmachtssoldaten bereits sowjetische Truppen auf. Man ist zu spät geflüchtet, und der Treck wird schnell von der Roten Armee überrollt. In ihrer Orientierungslosigkeit macht Familie Kusch bei weitläufigen Verwandten in Garziga Halt, wo sie übernachten kann.

 
Fußnoten

[1] In der Darstellung „Der Landkreis Stolp in Pommern“ (Lübeck 1989) von Karl-Heinz Pagel heißt es zu Langeböse auf S. 689: „Am 9. März um 4 Uhr morgens gab der Ortsgruppenleiter den Befehl zur Räumung des Dorfes, und eine Stunde später setzte sich der Treck in Bewegung.“