„Sie müssen alle zum Hafen! Sie müssen raus hier.“ - In Pillau

Nach der Überfahrt erreicht die Gruppe den Hafen von Pillau. „Ach Gott, da waren tausende Menschen“, erinnert sich Gertrud Zillikens der drangvollen Enge. Auf Anregung eines Soldaten setzen Katharina Riediger und ihre drei Töchtern sowie deren Oma und Tante in einem kleinen Bötchen vom Hafen nach Pillau über. Überraschenderweise finden sie hier ein gutes Quartier, was aber auch daran liegt, dass die Einwohner Pillaus in ihrer großen Mehrheit den Ort längst verlassen haben. „Das war eine Gartenlaube. Da war alles schön eingerichtet. Da war alles wunderbar.“

Als nächstes Problem entpuppt sich die Versorgungslage: „Ja, und was kriegen wir jetzt zu essen?“ Gertrud hat einen kleinen Eimer mit Bienenhonig über das gesamte Haff und die Nehrung transportiert, der sich nun als Glücksfall erweist. Jeder aus dem Riediger-Verbund darf nun ab und zu etwas davon lecken, was besonders für die Kranken eine große Hilfe darstellt. Hinzu kommt etwas Verpflegung durch in Pillau anwesende Soldaten – etwa in Form einer Graupensuppe. Außerdem gibt es im Ort reichlich Fleisch, denn man hat sämtliche Pferde geschlachtet, weil man sie nicht über die Ostsee transportieren kann. Gertrud schaut sich angeekelt die im Ort hoch gestapelten Berge von Fleisch und Gebeinen an. „Aber es hat geschmeckt. Wir hatten ja Hunger. Der hat es dann reingetrieben“

Eines Tages haben die Riedigers großes Glück. Nach dem Ende eines Luftalarms haben sie den Luftschutzbunker wieder verlassen und sind auf dem Weg zu ihrer Gartenlaube. „Da kam so ein Geschoss, genau bei uns kurz vor dem Haus. Wir Kinder sind über den Zaun geflogen. Ich hörte bloß, wie unsere Mutter ruft: ‚Kinder, wo seid ihr!‘ Da sind wir aufgekrabbelt und aufgestanden, hatten aber nichts mitgekriegt außer ein paar blauer Flecken.“ Kurz nach Ostern 1945 heißt es dann plötzlich: „Sie müssen alle zum Hafen! Sie müssen raus hier.“

 

Der Pillauer Hafen bietet für Gertrud ein eigentümliches und auch gespenstisches Bild. „Hunderte von Kinderwagen standen da“, erinnert sie sich. „Tausende Menschen, riesige Schiffe. Das hatte ich noch nie gesehen.“ Alles ist unklar. Soldaten fordern die Riedigers auf, sich in eine Schlange einzureihen, um auf eines der Schiffe zu kommen. Wohin der Weg gehen soll, wird nicht mitgeteilt.

Und wieder kommt es zu einem irritierenden Zwischenfall mit Mutter Katharina, die plötzlich verschwunden ist. Während ihre Töchter noch in der Schlange stehen, entdeckt Gertrud die Mutter auf einem der Schiffe. „Wir haben geweint und geschrien, und Mutter rief vom Schiff her.“ Wie es zur Trennung gekommen ist und warum ihre Mutter sie erneut alleine ließ, kann Gertrud Zillikens in der Rückschau nicht beurteilen. Es sei eben ein großes Gedränge gewesen. Zum Glück kommt ein Soldat und bestimmt: „Die Kinder gehören zu ihrer Mutter!“ Er sorgt für Platz und schafft die drei Schwestern als letzte Passagiere auf das Schiff. „Da haben wir auch noch Mal Glück gehabt.“ – Die Riedigers zählen damit zu den letzten jener rund 450.000 Menschen, die zwischen Ende Januar 1945 und dem 18. April 1945 mit Schiffen den Pillauer Hafen verlassen.