„Wir fahren zu Deinem Bruder und Tante Martha.“ - Politik und Flucht

Das Verhältnis seines Vaters zum SED-Regime sei, darin ist sich Wolfgang Kuhn sicher, zumindest „kritisch“ gewesen. Gleichgültig, was in der Schule hinsichtlich Politik und DDR-Gesellschaft gelehrt worden sei, habe sein Vater postwendend abgelehnt. „Der hatte das nicht gerne und war dann am Schimpfen.“

Diese kritische Einstellung schlägt sich auch im Verhalten von Raimund Kuhn nieder. Er habe sich für die Belange der Flüchtlinge in Pritzier eingesetzt, was seitens der örtlichen Parteileitung negativ bewertet worden sei. Auch hier hilft die in der Gemeindeverwaltung beschäftigte Tochter der Familie Dikomey, indem sie Wolfgangs Vater warnt, dass über ihn gesprochen würde und er nicht gut gelitten sei. Das ist dann wahrscheinlich der Auslöser für den Entschluss von Raimund Kuhn, die DDR zu verlassen. Das Vorhaben dürfte aber schon zuvor recht konkrete Formen angenommen hat; zumindest deutet der Wechsel von Sohn Harry nach Wollrode hierauf hin.

 

Es müssen jedoch zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden, was angesichts des zusehends eskalierenden „Kalten Krieges“ kein einfaches Unterfangen darstellt. Weil Vater Raimund die entsprechenden Vorbereitungen im Geheimen trifft und auch später nie mit seinem Sohn darüber spricht, müssen die Begleitumstände des Wechsels nach West-Berlin im Dunkeln bleiben. „Das kam für mich plötzlich. Ich habe davon zuvor nichts mitgekriegt“, erzählt Wolfgang Kuhn.

So viel jedenfalls ist klar: „Es waren Schulferien, und eines Nachts weckt er mich und sagt: ‚Wir stehen jetzt auf. Wir fahren zu Deinem Bruder und Tante Martha.‘“ Wolfgang will zunächst nicht. Das ginge nicht, erklärt er dem Vater, denn er sei doch mit der Schule im Feriencamp, wo auch noch seine Sachen seien. Als der Vater aber darauf besteht, machen sich beide auf den nächtlichen Weg zum Bahnhof, wo der Vater – wohl zur Verschleierung des Fluchtgedankens - zunächst Fahrkarten nach Wittenberge kauft. Den anschließenden Fluchtweg kann Wolfgang Kuhn zwar bis heute nicht genau rekonstruieren, aber mit West-Berlin das vorläufige Ziel benennen, wo die beiden Kuhns wohlbehalten ankommen.

Währenddessen macht sich sein Vater jeden Tag auf den Weg in die Kuno-Fischer-Straße 8, wo zwischen 1950 und 1953 die „Notaufnahmestelle für Flüchtlinge aus der DDR“ ihren Sitz hat, bei der Zuzugsgenehmigungen nach Westdeutschland beantragt werden können. Dazu muss man einen konkreten Anlaufpunkt und möglichst auch eine Arbeitsstelle nachweisen können. Beides kann Raimund Kuhn bieten: Seine Schwägerin Martha gewährt eine Unterkunft in Wollrode, und ein ehemaliger Bergwerksdirektor aus Schatzlar, den es ins Siegerland verschlagen hat, vermittelt ihm dort eine Arbeitsstelle. „Nach sechs Wochen hatten wir die Zuzugsgenehmigung und durften von West-Berlin nach Westdeutschland ausreisen. Das geschieht per Flugzeug nach Hannover und von dort zu „Tante Martha“ in Wollrode.

 

Vater Raimund setzt alles daran, nicht in ein Flüchtlingsheim eingewiesen zu werden und schafft es, für etwa sechs Wochen eine kleinen Wohnung anzumieten. Hier genießt Wolfgang den Berliner Sommer, denn die Nichten der Vermieterin nehmen ihn mit zum Baden an den Wannsee. Außerdem erinnert er sich vor allem ans Roller-Fahren in den Straßen von Charlottenburg, wo er mit neuen Freunden die Nebenstraßen im Umfeld der Wohnung erkundet.