„Bei meiner Tante hatte ich eine wunderbare Zeit.“ - In Wollrode

Die Unterbringung im kleinen nordhessischen Dorf Wollrode ist nicht eben komfortabel, denn die Tante ist Vertriebene und mit ihren Kindern und der Oma eher notdürftig in zwei Zimmern auf einem Bauernhof untergebracht. Die Enge wird noch spürbarer, als sich im Februar 1952 der kleine Harry hinzugesellt. Nun kommt Wolfgang noch als weiterer Bewohner hinzu, was sein Wohlbefinden am neuen Wohnort aber nicht schmälert. Im Gegenteil: „Bei meiner Tante hatte ich eine wunderbare Zeit“, lautet das rückblickende Urteil. Sie habe für ihn und seinen Bruder gesorgt und sie nichts davon merken lassen, dass sie nicht ihre eigenen Kinder gewesen seien.

Allerdings sind Wolfgang und sein Bruder nun zunächst auch vaterlos, denn Raimund Kuhn reist umgehend nach Siegen weiter, um dort seine Arbeitsstelle anzutreten. Von dort schickt er regelmäßig Geld zum Unterhalt seiner Söhne. Als es dabei einmal aus unbekannten Gründen zu Stockungen kommt, droht die Tante damit, Wolfgang und Harry in einen Zug Richtung Siegen zu setzen. Auch wenn diese Drohung wohl nicht ernst gemeint ist, löst sie bei Wolfgang erhebliche Ängste aus. Nur allzu häufig hat er in seinem jungen Leben bis dahin Ortswechsel und Verluste von vertrauten Personen verkraften müssen.

Trotz aller Fürsorge seitens der Tante sieht sich Wolfgang im dörflichen Alltag wieder weitgehend auf sich alleingestellt. „Da kommt man als Neuling an“, umschreibt er rückblickend den Neuanfang in Wollrode, „und die anderen Kinder pflaumen einen an.“ Er versucht sich auf die einzige ihm mögliche Art zu wehren: „Da habe ich was Schlimmes sagen wollen und habe zu einem von denen gesagt: ‚Du Affenpintscher!‘“ Es ist das Schrecklichste, was ihm in diesem Augenblick einfällt, zeigt allerdings nicht das erhoffte Ergebnis. Zwar zeigen sich die Wollroder Jungen von dem ihnen unbekannten Begriff kurzzeitig beeindruckt, nutzen ihn dann aber selbst auf eine Art, mit der Wolfgang nicht gerechnet hat: „Nun nannten sie mich ‚Affenpintscher‘. Jetzt hatte ich den Spitznamen am Hals.“

In der Schule erlebt der Neuankömmling dann in seinen Augen Eigenartiges. Er wird in die 3. Klasse der zwei Klassenräume umfassenden Schule eingegliedert. „Das war wirklich erstaunlich, dass ich da jetzt einen Griffel und eine Schiefertafel mit Schwämmchen kaufen musste, was ich in der DDR ja schon längst abgelegt hatte. Da haben wir ab dem 2. Schuljahr mit Federhalter und Tintenfass ins Heft geschrieben. Das war ein Rückschritt, ein Kulturschock.“

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten wird Wolfgang in Wollrode schnell akzeptiert. Dazu trägt sicherlich bei, dass seine Lehrerin ihn bald zum „Bürgermeister“ –also zum Klassensprecher - ernennt. „Das hieß für mich, ich bin anerkannt, und ich lass mir auch nichts gefallen. Das merken die, und ich kann mich durchsetzen“, umreißt Wolfgang Kuhn seine damalige Gemütslage. Tatsächlich gestaltet sich das Verhältnis zu den Klassenkameraden während der gesamten Zeit in Wollrode derart positiv, dass er noch heute zu einigen von ihnen Kontakt unterhält. Auch sonst wird ihm im Ort offenbar Sympathie entgegengebracht. „Die Frau des Lehrers hat mir sogar einen Pullover gestrickt, mir Flüchtlingskind“, betont er noch heute positiv berührt – auch wenn das Geschenk sehr stark gekratzt habe. Offenbar verfolgt sie damit aber auch weitergehende Absichten. Die kinderlose Frau, so erfährt Wolfgang Kuhn erst sehr viel später, habe bei seiner Tante um Vermittlung gebeten, ob der verwitwete Vater vielleicht bereit sei, seinen älteren Sohn zur Adoption freizugeben. „Den brauche ich nicht zu fragen. Das würde der nie tun“, habe seine Tante darauf knapp und deutlich geantwortet.