„Da hatte ich keine wehmütigen Gefühle.“ - Reise nach Schatzlar

Über das Sudetenland wird in der Familie Kuhn der 1950er und 1960er Jahre nicht offen kommuniziert. Vater Raimund spricht wenig über seine alte Heimat, obwohl er ihr - darin ist sich sein Sohn Wolfgang rückblickend sicher - innerlich offenbar stets sehr verbunden bleibt. So abonniert er etwa die „Riesengebirgsheimat“, ein seit 1947 erscheinendes Heimatblatt für den ehemaligen sudetendeutschen Kreis Trautenau, in dem auch Schatzlar liegt. Allerdings lässt er seine Söhne in keiner Weise an seiner eigenen Vergangenheit und Herkunft Anteil nehmen. Wenn er etwas erzählt, handelt es sich laut Wolfgang Kuhns Erinnerungen zumeist um Kindheitserinnerungen, die nichts mit Flucht und Vertreibung, sondern viel mit „heiler Welt“ in Form riesiger Schneemengen und damit verknüpfter Erlebnisse zu tun haben.

 

Für Sohn Wolfgang spielt sein Geburtsort, mit den ihn keinerlei eigene Erinnerungen verbinden, zunächst keine Rolle. Erst 1993 kommt ihm im Rahmen der jährlichen Urlaubsplanungen zum Bewusstsein, dass durch den Wegfall des „Eisernen Vorhangs“ nun ja auch das Riesengebirge als Ziel offensteht. Als Gemeinderatsmitglied nimmt er daher Kontakt zum Bürgermeister seines nun Žacléř heißenden Geburtsortes auf. Daraufhin, so erfährt Wolfgang Kuhn später, sei im Ort per Lautsprecher ausgerufen worden, dass westdeutsche Besucher im Ort nach eine Ferienunterkunft suchen würden. „Wer nimmt sie auf?“

Familie Kuhn macht sich auf den Weg in die Tschechei und kommt in Žacléř tatsächlich privat unter. „Die Frau war Deutsche, und ihr Mann war Tscheche.“ Der Ort macht auf Wolfgang Kuhn allerdings einen verwahrlosten und somit enttäuschenden Eindruck. „Alle Häuser sahen trostlos aus. An einem alten Hotel an der Hauptstraße schlug der Wind die Fenster hin und her. Aus der Dachrinne wuchsen Sträucher.“ Als er vor seinem Elternhaus steht, ist auch hier der Eindruck desillusionierend: „Im Erdgeschoss lief das Wasser runter. Da wuchsen Bäume rein. Im oberen Stock, da war es bewohnt. Untendrunter war eigentlich alles schon verfallen.“ Nicht zuletzt wohl wegen dieser Zustände wird Wolfgang Kuhn durch diese Reise in die Vergangenheit wenig berührt. „Da hatte ich keine wehmütigen Gefühle“, stellt er nüchtern fest.

 

Angeregt durch den Hinweis einer ebenfalls aus dem Sudetenland stammende Jüchenerin – der Schwester des hier ebenfalls porträtierten Werner Schuh – sieht Wolfgang Kuhn Kirchenbücher und Personenstandsunterlagen ein. Im Bürgermeisteramt wird ihm schließlich tatsächlich seine Geburtsurkunde vorgelegt: „Da stand ich da“, stellt er noch heute positiv überrascht fest, „da las ich meinen Namen in Schatzlar!“