„Vorstufe der Rekrutenausbildung“ – Die Wehrertüchtigungslager der HJ im Krieg

Die Wehrertüchtigung der HJ wurde in den Kriegsjahren neu strukturiert. Aufgrund des enormen Führermangels konnte die Ausbildung nicht mehr in einem von Wehrmacht und Reichsjugendführung erwünschten Maß in den einzelnen Einheiten durchgeführt werden. Daher kam es 1942 in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht zur Einrichtung von so genannten Wehrertüchtigungslagern als „Vorstufe für die Rekrutenausbildung".[1] Hier wurden nun erstmals alle Jugendlichen, also nicht wie bisher nur HJ-Führer und Ausbilder für die HJ, zu einer dreiwöchigen Schulung zusammengefasst und erhielten eine Schieß- und Geländeausbildung. Davon betroffen waren zunächst alle Angehörigen des Geburtsjahrgangs 1924, gleichgültig ob sie Mitglied der HJ waren oder nicht. Generell galt die Regelung für alle männlichen Jugendlichen ab 16 ½ Jahren[2].

Die Lager, die zumeist in leerstehenden RAD-Unterkünften stattfanden, wurden von „frontbewährten", aber nicht mehr „kriegsverwendungsfähigen" Offizieren geleitet, die HJ-Führer waren und von der Wehrmacht zur Reichsjugendführung abkommandiert wurden. In den Lagern unterstanden sie der Reichsjugendführung, leisteten als HJ-Führer mit entsprechender Uniform ihren Dienst, erhielten aber weiterhin ihren Wehrsold und bekamen die Tätigkeit bei der HJ als Dienstzeit angerechnet. Sie konnten jederzeit von der Wehrmacht abberufen werden, was in der Regel geschah, wenn sie wieder „kriegsverwendungsfähig" waren.

Gleiches galt für die Ausbilder in den Lagern. Diese „fronterfahrenen", verwundeten Soldaten und Unteroffiziere wurden entweder von der Wehrmacht oder, zu einem geringeren Teil, von der Waffen-SS abkommandiert. Sie leisteten ihren Dienst in den Wehrertüchtigungslagern in Wehrmachts- bzw. SS-Uniform ab. Auch sie erhielten währenddessen ihren Wehrsold und bekamen den Dienst in den Lagern als militärische Dienstzeit angerechnet. Fachlich unterstanden sie dem Lagerleiter, disziplinär dem räumlich zuständigen Generalkommando. Anfangs waren diese Ausbilder oft HJ-Führer, später durch die großen Verluste an der Front auch Soldaten ohne eine entsprechende jugendgemäße Ausbildung.

Sowohl Lagerleiter als auch Ausbilder mussten vor ihrem Einsatz Einweisungslehrgänge der Reichsjugendführung zur Durchführung der Wehrertüchtigung durchlaufen. Trotzdem mehrten sich bereits in den ersten sechs Monaten nach Einführung der Wehrertüchtigungslager die Beschwerden darüber, dass die Ausbildung vielfach alles andere als jugendgemäß durchgeführt wurde und das „'Schleifen' der Jungen und die Anwendung der gemeinsten und zotigsten Ausdrücke seitens der Ausbilder trotz aller Hinweise üblich" war[3]. Obwohl die Reichsjugendführung versuchte, gegen diese Missstände vorzugehen, unter anderem mit Hinweis auf die Schädigung der „idealistischen Auffassung" der Jugendlichen, konnte sie die beanstandeten Missstände nicht völlig abstellen.[4]

Von Seiten der Ausbilder, der Wehrmacht und der Waffen-SS wurden die Lager als erfolgreich und positiv bewertet, weil sie den Jungen eine „straffe Haltung" vermittelten und einen „zeitlichen Gewinn" für die spätere militärische Ausbildung darstellten.[5] Aus ländlichen Gebieten wurden allerdings Beschwerden laut, wenn es durch den Dienst gerade in Erntezeiten zu Einschnitten bei der dringend benötigten Mitarbeit im elterlichen Betrieb kam.

Mit der Verschärfung des Krieges und den exorbitanten Verlusten an Menschenleben nahmen die Forderungen der Wehrmacht nach einer vollständig truppentauglichen und realitätsnahen Wehrertüchtigung der Jugend weiter zu. Im Zuge der „Verordnung über die Erweiterung der Wehrpflicht" vom 12. August 1943 wurden nun bereits die 17-jährigen Jungen zum Kriegsdienst eingezogen und gingen direkt von den Wehrertüchtigungslagern zur Wehrmacht. Daher sollte die Ausbildung in den Lagern mehr und mehr Teile der Rekrutenausbildung vorwegnehmen. So wurde im Rahmen des Volkssturms, der am 25. September 1944 auf Erlass Hitlers als letzter Versuch, der ausweglosen deutschen Lage eine Wende zu geben, „aufgerufen" worden war, unter anderem verfügt, dass die Schießausbildung der 16- und 17-jährigen Hitlerjungen fortan an Wehrmachtswaffen zu erfolgen habe. Zusätzlich wurde nun geplant, bereits die 15-jährigen Jungen in Wehrertüchtigungslagern auszubilden und die Ausbildung der 16-jährigen zu intensivieren. Immer jüngere Jugendliche sollten nun also in kürzester Zeit kampffähig gemacht werden, um die Verluste an der Front auszugleichen und den Schein aufrechtzuerhalten, der längst verlorene Krieg könnte doch noch gewonnen werden - ein zynisches Spiel mit dem Leben junger, idealistischer Menschen, die nicht die geringste Chance hatten, gegen die übermächtigen Kriegsgegner militärisch zu bestehen.

Fußnoten

[1] Vgl. Siebert, Grundzüge des deutschen Jugendrechts, S. 43 sowie Rüdiger, Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete, S. 87-90, Axmann, Hitlerjugend, S. 282-285 und Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg, Bd. 1, S. 208-223
[2] Vgl. Siebert, Grundzüge des deutschen Jugendrechts, S. 43
[3] Vgl. Axmann, Hitlerjugend, S. 286 sowie SD-Berichte zu Inlandsfragen vom 18. November 1943 (Rote Serie), in: Meldungen aus dem Reich, Bd. 2, S. 6037f.
[4] Vgl. Reichsbefehl der Reichsjugendführung, 29/42 K, 23.11.1942 sowie SD-Berichte zu Inlandsfragen vom 18. November 1943 (Rote Serie), in: Meldungen aus dem Reich, Bd. 2, S. 6041
[5] Vgl. SD-Berichte zu Inlandsfragen vom 18. November 1943 (Rote Serie), in: Meldungen aus dem Reich, Bd. 2, S.6038-6040