Kommentar Günther Roos 1989: "Die Tante Emilie, die heute vor einem Jahr starb, war die Schwester meines Großvaters Gustav Roos. In jungen Jahren hatte sie eine große Liebe mit einem Kunstmaler. Da sie diesen nicht heiraten konnte oder durfte, beschloss sie unverheiratet zu bleiben. Da sie finanziell durch ihr Erbe gesichert war und von den Zinsen leben konnte, war dies kein Problem. Ihr Vermögen war hauptsächlich in Hypotheken angelegt. Während der Inflation 1923 zahlten die Gläubiger die Hypotheken aus7 und wenn sie Glück hatte reichte der Gegenwert gerade noch zum Kauf von einem Pfund Butter. Nach dem Ende der Inflation stand sie völlig mittellos da und wurde Kleinrentner, heute würde man sagen Sozialrentner. Sie wohnte in einem Zimmer bei Schenk auf der Bonnstrasse. Sie war eine große, hagere Peron, etwas brummig aber von Herzen gut. Und ich war ihr erklärter Liebling. Der Grund lag wohl darin, dass ich sehr viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, meinem Großvater hatte. Sie war keinesfalls eine alte Jungfrau. So rauchte sie schon mal gern ein Zigarillo, und lief dann, wenn unverhoffter Besuch kam, Zeitungen wedelnd durch das Zimmer, um den Rauch zu vertreiben. Sie trank auch gern ein Glas Rotwein und saß dann und prostete sich selbst in den gegenüberhängenden Spiegel zu. Und sie war ausgesprochen sensationslüstern. Wenn in Brühl Kirmes war, wohnte sie immer bei uns. Da dann die Kölnstraße gesperrt war, wurde der Verkehr über Kaiserstraße und Friedrichstrasse umgeleitet und regelmäßig kam es an der Kreuzung Kaiserstraße, Friedrichstrasse zu Unfällen. So saß die Tante bei uns am Küchenfenster und wartete auf den nächsten Zusammenstoß. Und wenn es dann endlich einmal krachte, dann wurde sie ganz kribbelig und schickte uns hinunter< um zu sehen, was alles gesehenen war und ihr dies zu berichten. Wenn die Tante Emilie mich im Kinderwagen durch den Park spazieren fuhr, kam sie immer stolz zurück, weil die Leute nach einem Blick in den Kinderwagen immer wieder feststellten, was für ein schönes Kind ich sei. Ich war halt ihr Schwälbchen. In ihrer Liebe hätte sie mich fast einmal umgebracht. Meine Eltern waren nach Köln ins Theater gefahren und meine Tante hatte, da ich den Beginn von Keuchhusten hatte, die Rolle des Babysitters übernommen. So glaubten meine Eltern den Abend ruhig genießen zu können. Wie groß war ihr Entsetzten als sie bei der Rückkehr mich mit verdrehten Augen, bleich und stoßweise atmend vorfanden. Sie riefen sofort nach dem Hausarzt, dem Doktor Weinreich. D^- untersuchte mich und schüttelte dabei immer wieder zweifelnd den Kopf. Die Befürchtungen meiner Eltern wuchsen von Minute zu Minute und sie baten den Arzt um die Diagnose. Der zuckte mit den Schultern und meinte dann: Wenn es ja kein Säugling von neun Monaten wäre7 würde ich sagen, der Kerl ist stinkbesoffen. Man nahm nun die Tante ins Verhör. Und unter Brummen gestand sie dann, mir nach einem Hustenanfall einen Cognac eingeflösst zu haben, denn der habe noch nie einem geschadet. Nach zwei Tagen hatte ich den ersten Rausch meines Lebens gut überstanden. Wenn der Tante in ihrem Zimmer auf der Bonnstrasse die Decke auf den Kopf fiel, dann kam sie zu uns zu Besuch. Pünktlich zum Mittagessen traf sie dann bei uns auf der Kurfürstenstraße ein, ohne ein Wort über ihre Absichten zu sagen. Hätten wir sie gefragt, ob sie länger bliebe, so hätte sie brummend ihr Tasche gepackt und wäre mit der Bemerkung: Wenn ich nicht willkommen bin, kann ich ja wieder gehen, gegangen. So warteten wir gespannt auf das Ende des Mittagessens. Stand sie dann auf, band ihr Kittelschürze um und half beim Spülen, so wussten wir, die Tante bleibt jetzt einige Tage bei uns. Da ich im alten Bett meines Großvaters, ihres Bruders, schlief, musste ich dies für die Tante räumen und schlief dann zusammen mit meinem Bruder in dessen Bett. Abends nach dem Abendbrot saßen wir dann noch zusammen und die Tante wurde immer brummiger und einsilbiger. Und mein Vater frug dann die Mutter, wenn die Tante mal das Zimmer verlassen hatte was los sei und ob Streit sei. Nein, meinte sie, ich weiß was die Tante hat. Und wenn wir dann wieder zusammensaßen, frug Mutter ganz harmlos: Was meinst Du, sollen die Kinder nicht bei Bertram einen Krug Bier holen? Sofort klarte dann die Mine der Tante auf und sie brummte dann: Ich meine es aber auch! Waren wir schon zu Bett, und meine Eltern hatten eine Flasche Wein aufgemacht, so stand nach einiger Zeit die Tante auf, nahm ein Glas und schwenkte, da sie ein Bein etwas nachzog, in unser Schlafzimmer, weckte mich sanft, hielt mir das Glas an den Mund und flüsterte: Komm, Güntherchen, trink! So sehr sie mich liebte, so wenig konnte sie meinen Bruder leiden. Als meine Mutter mal im Krankenhaus lag und Tante Emilie den Haushalt führte, hatten wir folgenden Test vereinbart: Wenn wir zusammen im Bett lagen, rief ich nach einiger Zeit: Tante, Tante, komm mal. Der Gustav zankt mich immer! Und schon kam sie wie eine Furie angerauscht und rief: Du fiese Jung, du widerliche Jung, lass mir nur das Jünterchen in Ruh! Wenn ich noch was höre, schlage ich dich windelweich! Dann zog sie beruhigt wieder ab. Nach einiger Zeit der Gegentest. Mein Bruder schrie um Hilfe weil ich ihn zankte. Und schon kam die Tante angerauscht und ermahnte mich: Musst du nicht tun. Lass den widerlichen Jung in Ruhe, Jünterchen. Diese einseitige Parteinahme nahm übrigens keiner der Tante übel, wir nahmen sie eben als Schrulle hin. Als meine Mutter dann wieder aus dem Krankenhaus wiederkam und noch nicht ganz auf dem Damm war, versorgte uns noch die Tante weiter. Ich aber beklagte mich nach einigen Tagen bei meiner Mutter, seit sie wieder zu Hause sei, lege mir das Hühnchen kein Ei mehr in Schulranzen. Meine Mutter schimpfte dann doch heftig mit der Tante. Wenn sie mir ein Ei zukommen wolle, so solle sie mir das Ei zu Hause geben, da es nicht recht sei, dass ich Eier esse, während andere Kinder nicht satt Brot hätten. Es war dies zur Zeit der großen sozialen Not zu Beginn der 30er Jahre. Ein besonderes Verhältnis hatte die Tante zu Hitler. Immer wieder sagte sie, nein, was ist das ein schöner Mann! Und sie schimpfte mit meinem Vater: Wenn ich Dich gefragt habe, was ich wählen soll, hast Du immer von einer NSDAP gesprochen, aber von dem Hitler hast Du mir nie etwas gesagt. Sie war so begeistert, dass sie mir meine erste Uniform kaufte. Tante Emilie erlitt einen Gehirnschlag und starb einige Tage später im Krankenhaus. Ihre letzten Worte waren: Hört ihr die Trommeln, da marschiert der Günther. Der Tod der Tante war der erste schwere Verlust in meinem Leben. Am Grab habe ich so geweint, dass man mich wegführen musste."