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Jugend! Deutschland 1918-1945
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Die Geschichte von „Jugend“ folgt sicherlich allgemeinen Entwicklungen und „großen“ Linien. „Erfahrbar“ und nachvollziehbar wird sie aber zumeist erst am konkreten Beispiel eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region, das quasi mikroskopische Einblicke in Prozesse gewährt, die dem Betrachter beim Blick auf das reichsweite „große Ganze“ verborgen bleiben müssten. In den hier versammelten Beiträgen werden daher die jeweiligen Bedingungen vor Ort in den Mittelpunkt gerückt, um so die „Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“ für die jeweiligen Themenaspekte auszuloten.

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Größe und Sozialstruktur der Gruppen

Über Anzahl und Größe der unangepassten Jugendgruppen sind lediglich vorsichtige und entsprechend vage Schätzungen und Mutmaßungen möglich, die sich auf Angaben der Jugendlichen selbst und der Gestapo stützten.

Die Navajo-Gruppen zählten meist zwischen zehn und 20 Mitglieder; zu bestimmten Anlässen konnten jedoch auch weitaus mehr zusammentreffen. Die Jugendlichen stammten fast alle aus der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht, und kaum ein Jugendlicher besuchte eine höhere Schule. Die Navajos standen zumeist schon mit 15, 16 Jahren - allerdings bei geringem Verdienst - voll im Arbeitsleben, wobei nicht wenige mit ihrem knappen Lohn ihre Familien unterstützen mussten. Urlaub kannten die Jugendlichen kaum. Im Vergleich zu den späteren Edelweißpiraten waren die Navajos zum Zeitpunkt ihres Verhörs älter, meist zwischen 17 und 20 Jahren und hatten die NS-Machtübernahme noch bewusst miterlebt. Dadurch hatten viele von ihnen vor 1933 unterschiedlichen Jugendorganisationen angehört - nicht selten auch der HJ. So fällt der Anteil der HJ-Mitgliedschaften vor 1933 mit fast einem Drittel der schriftlich überlieferten Fälle erstaunlich hoch aus. Allerdings ist als Motiv für den Beitritt wohl eher ein generelles Interesse der Jugendlichen daran zu vermuten, neue Organisationsformen und Zusammenschlüsse auszuprobieren, als eine tatsächliche politische Überzeugung. Aber auch etwaige Verbindungen zur bündischen Jugend waren tatsächlich wohl eher „ideeller" als realer Natur.[1]

Wie die Navajos stammten auch die bislang aus Quellenüberlieferungen bekannt gewordenen Kölner Edelweißpiraten der 1940er Jahre aus der Arbeiter- und unteren Mittelschicht. Im Gegensatz zu ihren „Vorgängern" absolvierten viele von ihnen ihre Ausbildung und waren noch Lehrlinge. Die meisten Edelweißpiraten waren zum Zeitpunkt ihres Verhörs zwischen 15 bis 18 Jahre alt, was nicht zuletzt darin begründet war, dass die älteren Jugendlichen zum Reichsarbeitsdienst und zur Wehrmacht eingezogen waren.

Im Vergleich zu den Navajos standen viele Edelweißpiraten in der „Blüte" ihrer Pubertät, was sich gelegentlich auf ihr Verhalten niederschlug. Mädchen und Jungen unternahmen zwar ebenso wie bei den Navajos gemeinsame Fahrten und Ausflüge und trafen sich in Parks und Grünanlagen, doch scheint das Interesse an einer sexuellen Beziehung zumeist noch nicht so ausgeprägt gewesen zu sein wie bei den älteren Navajos.

Bei den Edelweißpiraten war allein schon aus Altersgründen eine bündische Vorgeschichte ausgeschlossen. Michael Jovy, aufgrund bündischer Betätigung während der NS-Zeit lange Zeit inhaftiert, fasste diesen Sachverhalt 1952 prägnant zusammen: „Im äußeren Auftreten glichen die auf Fahrt gehenden Edelweißmitglieder weitgehend den bündischen Gruppen der illegalen Zeit. Jedoch hat eine unmittelbare Beziehung zur bündischen Jugend wohl nirgends bestanden. Zwar erhielten sich einige Lieder der Bündischen in diesen Kreisen, man sang sogar: 'Wir wollen bündisch sein', aber es verband sich hiermit keinerlei klare Vorstellung, was die bündische Jugend eigentlich gewesen war. Von einzelnen Gruppen wurde zweifellos nach einem Anknüpfungspunkt an das Vergangene gesucht. [...]. Im Allgemeinen aber lag die Zeit der Jugendbewegung dem Bewusstsein dieser Jugendlichen schon so fern, dass eigentlich nur noch die Erinnerung lebendig war, dass irgendwann die Jugend frei gewesen sei."[2] - Bündisch wurde also eher als Synonym von Freiheit begriffen, ohne dass die ursprüngliche Definition von Bedeutung war.

Schließlich stellte der Krieg einen zentralen Unterschied in der Lebenswelt von Navajos und Edelweißpiraten dar. Bombenangriffe, Aufräumarbeiten und Leichenbergung bestimmten bei den Letztgenannten zunehmend den Alltag. In den letzten Kriegsjahren waren die Zustände in Köln dann endgültig katastrophal: Im Herbst 1944 war Köln ohne Wasser-, Gas- und Lichtversorgung; Telefonleitung und Verkehrsverbindung waren zusammengebrochen. In dieser Zeit der Verunsicherung gaben die Gruppen den Jugendlichen großen Rückhalt. Sie schufen eine kollektive Identität, die durch die Zerstörung von Normalität und Alltäglichkeit sonst kaum noch zu finden war.

Konkrete Angaben zur Zahl unangepasster Jugendlicher in Köln gibt es nicht. Es erscheint aber durchaus realistisch, von jeweils einigen Tausend Jugendlichen in den Gruppen Unangepasster sowohl vor als auch während des Kriegers auszugehen. Zum Vergleich: In Köln zählte jeder Jahrgang seit 1919 etwa 10.000 Neugeborenen; 1939 beispielsweise lebten 10.248 Jugendliche des Jahrgangs 1924 in Köln. In der damaligen Wahrnehmung traten die jugendlichen Cliquen - nicht wohl zuletzt auch deshalb, weil sie nicht der „Norm" entsprachen und daher auffielen - massenhaft auf; unangepasstes Jugendverhalten erschien entsprechend als äußerst weit verbreitetes Phänomen: „Gegen Ende des Jahres 1942 gab es so viele Edelweißpiraten, dass man ihre Gruppen an fast allen Luftschutzbunkern in Köln finden konnte." Und schon 1937 erklärte ein Navajo, seiner Meinung nach fahre „jeder zweite oder dritte Junge am Wochenende heraus".

Auch die Angaben der Verfolgungsbehörden sprechen für eine hohe Quote. „Dass diese Jugendbewegung gerade im Stadtgebiet Köln in großem Ausmaße" bestehe, so ein Gestapo-Bericht von Februar 1943, beweise „die Sonderkartei bei der hiesigen Dienststelle, in der über 3.000 dieser Personen erfasst sind". In die Arbeitsanstalt Brauweiler wurden immer wieder massenhaft Jugendliche eingeliefert, die bei Razzien der Gestapo verhaftet worden waren; allein von August 1943 bis Februar 1944 mindestens 216 Jugendliche, von denen die meisten zwischen 15 und 18 Jahre alt waren.

Fußnoten

[1] Vgl. auch Kenkmann, Alfons: Navajos, Kittelbach- und Edelweißpiraten. Jugendliche Dissidenten im „Dritten Reich", in: Breyvogel (Hg.): Piraten, Swings und Junge Garde, S. 145 f., der konstatierte, dass „beide Jugendkulturen getrennt voneinander den NS-Alltag bewältigten".

[2] Jovy: Jugendbewegung und Nationalsozialismus, S. 178. Es gab allerdings auch einige Jugendliche, die sich in einer bündischen Tradition sahen oder Kontakte zu Bündischen pflegten. Vgl. Jülich: Kohldampf, Knast un Kamelle, S. 58 f; Theilen: Edelweißpiraten, S. 19.