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Klaus Schlimm

geb. in Magdeburg 1929

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Evangelische Jugend
Evangelische Jugend in Essen

Evangelische Jugend (BK) - „Mein Vater sagte, da gehst du hin, das ist eine ganz tolle Sache.“

Aufgrund seiner Unsportlichkeit findet Klaus in der HJ nicht die Anerkennung, die er wie jeder junge Mensch sucht. Er kompensiert das schließlich durch Aktivitäten in der evangelischen Jugend, wo andere Maßstäben gelten. Im Burggymnasium wird er wie alle anderen evangelischen Jungen von den Leitern der Bibelkreise für die Jugendarbeit im Weigle-Haus angeworben. Er wird von einem Jungen angesprochen, der ihm erklärt, dass ihre Arbeit jetzt zwar „Gemeindejugend" genannt würde, es handle sich aber weiterhin um den üblichen Bibelkreis, der im internen Jargon „Abteilung B" genannt werde. „Abteilung A" dagegen sei für die werktätigen Jugendlichen. Die „Abteilung B" leitet Wilhelm Busch persönlich, was Klaus' Vater besonders begeistert: „Mein Vater sagte, da gehst du hin, das ist eine ganz tolle Sache". Und das tut er dann auch.

Klaus Schlimm schildert, wie der Bibelkreis bei Wilhelm Busch abläuft: „Es war immer ein Teil, der unterhaltend war, und ein Teil war Bibelarbeit, und dann wurden die alten BK-Lieder gesungen dazu." Das alles findet „auf dem Stuhl sitzend" statt, „weil mehr nicht erlaubt war", alle Aktivitäten außerhalb des Hauses sind zu dieser Zeit schon verboten. Wilhelm Busch leitet sowohl einen Bibelkreis für jüngere, als auch einen für ältere Schüler und schafft es, die Jungen in seinen Bann zu ziehen. „Dem jüngeren BK wurde die sogenannte Räuberpistole erzählt. Der Wilhelm Busch hatte eine unheimliche Phantasie, der konnte aus dem Stehgreif Geschichten erzählen, die faszinierend waren. Das waren die Räuberpistolen, und die waren unheimlich spannend. Die brachen immer an einer spannenden Stelle ab, nächsten Samstag geht's weiter." Die Bibelarbeit wiederum war eher ein biblischer Vortrag: „Spannend vom Ersten bis zum Letzten, gespickt mit persönlichen Erinnerungen, mit persönlichen Erlebnissen. Dann wurde gebetet und gesungen und dann ging's wieder nach Hause."

Klaus selbst wird bald auch - im Kreise der Hitlerjugend! -  ein begabter Erzähler von Räuberpistolen, in denen er selbst immer der Held ist und der Böse immer der britische Premier Chamberlain. Die Hitlerjungen sind davon so begeistert, dass es auf den Heimnachmittagen statt Unterweisungen zu folgen oft von allen Seiten ertönt: „Der Schlimm soll Chamberlain erzählen!"

 

Der Alltag im Weigle-Haus wird unter den eingeschränkten Möglichkeiten von NS-Zeit und Krieg „so schön wie möglich" gestaltet. Bewirtung und Getränke gibt es dort schon nicht mehr, „nur eben Erzählen und Singen, und sonntags war immer der Weigle-Haus-Gottesdienst, der war sehr gut besucht, von Leuten aus der Gemeinde dort." Klaus selbst geht allerdings weiterhin in Werden zur Kirche.

Zum pietistischen Geist in dem evangelischen Zentrum, das in Essen so viele Jugendliche anzog, urteilt Klaus Schlimm heute: „Natürlich hatte das Weigle-Haus eine extreme Ideologie." Darin wird dem Thema „Sünde und Bekehrung" besondere Bedeutung beigemessen, konkret konzentriert auf „eine bis zum Extrem gesteigerte Sexualfeindlichkeit". Zum Beispiel werden alle Zeitungen, die im Weigle-Haus ausliegen, diesbezüglich zensiert und aus den Witze-Seiten die Stellen, wo Mädchen einen ausgeprägteren Busen haben oder der Rock etwas kurz ist, herausgeschnitten. Oder wenn es in Liedern um Liebe geht, wird der Text verändert. „Die eigentliche Gefahr ist das Mädchen. Ihr seid gut, aber die Mädchen sind schlecht. Das kam immer wieder 'rüber". Diese Moralvorstellungen Wilhelm Buschs passen sehr gut mit denen von Vater Schlimm zusammen, und so wird die „Gesetzlichkeit des Weigle-Hauses" bei Schlimms zu Hause noch verstärkt.

 

Dass eine Mitgliedschaft in der evangelischen Jugend jener in der Hitlerjugend in dieser Zeit nicht im Weg steht, belegt die Tatsache, dass es durchaus auch personelle Überschneidungen gibt: „Es gab aber Leute, die in [HJ-] Uniform ohne weiteres am BK teilgenommen haben. Also, dieses Doppelgleisige hat es gegeben, auch der bündische BK war ja, das muss man ja nun auch sagen, extrem nationalistisch." Es habe somit durchaus Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien gegeben, resümiert Klaus Schlimm heute.

Warum das Weigle-Haus trotz der dort herrschenden strengen Moral des Pietismus im Gegensatz zur HJ so anziehend für Jugendliche war, erklärt er so: „Das Jungvolk bot keine Heimat, keine familiäre Heimat, sollte es auch nicht. Sondern Jungvolk war eine Horde von Leuten, die den Schemen von Befehlen und Gehorchen unterworfen war. Die Heimat gründeten sich die Jugendlichen woanders." Das kann auch fernab von konfessionellen Jugendorganisationen geschehen; so bilden sich in Klaus' Klasse so genannte „Stämmken", unpolitische Gruppen, die zum Beispiel Seifenkisten bauen und nur für sich eigene kleine Rituale entwickeln. In diesem Zusammenhang erwähnt Klaus Schlimm rückblickend auch die Edelweißpiraten, deren Bedeutung ihm aber zumindest für das Ruhrgebiet deutlich überbewertet erscheint.

 

Es gibt noch einen weiteren Dienstags-Kurs im Weigle-Haus, der eher für Fortgeschrittene gedacht ist, „wo Formen der Frömmigkeit geübt wurden, die in dem allgemeinen Bibelkreis nicht waren, wie das kniende Beten". Da Klaus in Werden wohnt, nimmt er einerseits aus zeitlichen und verkehrstechnischen Gründen nicht teil. Andererseits geht ihm das dort Vermittelte aber auch „ein bisschen zu weit". So behält er immer etwas kritische Distanz zu dem, was im Weigle-Haus geschieht und bleibt so jemand, der in der BK-Sprache „Seiten-Nulpe" genannt wird, „einer, der nie richtig sich bekehrt hat".

 

zuletzt bearbeitet am: 10.08.2018