Die Geschichte von „Jugend“ folgt sicherlich allgemeinen Entwicklungen und „großen“ Linien. „Erfahrbar“ und nachvollziehbar wird sie aber zumeist erst am konkreten Beispiel eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region, das quasi mikroskopische Einblicke in Prozesse gewährt, die dem Betrachter beim Blick auf das reichsweite „große Ganze“ verborgen bleiben müssten. In den hier versammelten Beiträgen werden daher die jeweiligen Bedingungen vor Ort in den Mittelpunkt gerückt, um so die „Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“ für die jeweiligen Themenaspekte auszuloten.
Weil sich ihre Arbeit eindeutig auf Kinder und Jugendliche „von der Straße", d.h. aus dem Arbeitermilieu konzentrierte, war die erste feste Gruppe, die sich regelmäßig bei den Salesianern traf und geistig von ihnen betreut wurde, in dieser Hinsicht eher untypisch. Es handelte sich um die im Herbst 1919 von Schülern des Borbecker Gymnasiums ins Leben gerufene Gruppe von „Neudeutschland", die zunächst von dem Jesuiten-Pater Johannes Kipp, der einen entsprechenden Kreis auch an der Goetheschule in Rüttenscheid initiierte, geleitet wurde.[1] Von hier aus dehnte sich die ND-Arbeit schnell über das Essener Stadtgebiet und über dessen Grenzen aus, so dass sich schon bald die entsprechenden „Ortsgruppen" zum Ruhrgau" zusammenschlossen, der zunächst von dem Rüttenscheider Schüler Wilhelm van Almsieck geleitet wurde. Parallel hierzu schlossen sich die Stadt-Essener ND-Gruppen unter der Führung des Borbecker Gymnasiasten Anton Köchling zum „Alfredus-Kreis" zusammen.
Zurück nach Borbeck: Als sich dann aber 1921 die Salesianer in Borbeck niederließen, übernahm nicht nur deren erster Direktor Pater Hermann Lampe das Amt des Gruppenkaplans, sondern stellte dem ND zudem einen Raum des neuen Jugendhauses zur Verfügung. „In diesem Don Bosco-Haus", so erinnerte sich deren erster Führer Anton Köchling 1969, „erhielt die Borbecker Ortsgruppe als Mittelpunkt ihres Wirkens ihr schönes Heim." Diese Zusammenarbeit war zunächst jedoch nicht von langer Dauer, denn 1925 hat die Borbecker ND-Gruppe ihre Unterkunft in der Nähe des Gymnasiums im Eckhaus Prinzenstraße/Zielstraße. Zu diesem Zeitpunkt war der Elan der ersten Jahre - bereits im ersten Jahr soll ein Mitgliederstand von 100 Schülern erreicht worden sein - aber offenbar verpufft; irgendwann im Laufe der Jahre 1925/26 kam der Gruppenbetrieb zum Erliegen.
Es war wohl nicht zuletzt die Ankunft von Pater Heinrich Kremer, die das „neudeutsche" Leben im Essener Nordwesten wiederbelebte. Jedenfalls fand sich 1927 wieder eine ND-Gruppe zusammen, die ihre Heimabende für kurze Zeit in einem Klassenraum des Gymnasiums abhielt, dann aber wieder ins Salesianerheim umzog, wo Pater Kremer bis zu seinem Weggang in die Niederlande bis 1937 als Gruppenkaplan fungierte. „In diesem Jahr Einführung der Neudeutschen Gruppe", notierte der unter dem Jahr 1928 in seinen persönlichen Aufzeichnungen. In den folgenden Jahren förderte Kremer die ND-Gruppe nach Kräften und mit Erfolg. 1934 zählte die Gruppe rund 180 Mitglieder und selbst nach den zahlreichen Schikanen und Einschränkungen von NS-Seite hielten 1937 nach Mitteilung damals Beteiligter noch immer etwa 100 Schüler dem Bund und den Salesianern die Treue.
Ein Schüler, der erst 1938 (!) zum ND stieß, erinnerte sich 1969: „Die Neudeutsche Gruppe in Essen-Borbeck hatte damals ihr Heim bei den Salesianer-Patres. Es war ein Heim, von dem die Gruppe heute träumt: eine große Spielhalle mit 2 Tischtennisplatten und vier Billardtischen, einer Ecke für Brettspiele und einer Leseecke, dazu vier Fähnlein-Zimmer, eine kleine Küche und ... sogar ein eigener Vortragsraum, der auch als Kapelle benutzt werden konnte. Außerdem stand uns nach 18 Uhr der Sportplatz zur Verfügung. Pater Heinrich Kremer ... hatte unter persönlichem Einsatz viel getan, um uns dieses schöne Heim zu bieten. Es ist daher kein Wunder, wenn unter diesen Voraussetzungen die Gruppe sehr stark war und ein reges Gruppenleben herrschte. Schließlich waren wir eine Gemeinschaft, die sich nicht nur zu der wöchentlichen Fähnleinrunde traf, sondern an jedem freien Nachmittag und Abend im Heim zusammen war. Fehlen wollte von denen, die dazu gehörten, keiner."
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich, ohne dass über die Gründe für die Umstrukturierung etwas bekannt ist, die ND-Gruppe längst vom „Don Bosco-Zirkel getrennt. Seit dem 10. September 1933 war sie sozusagen selbstständig, behielt jedoch ihr Heim mit all seinen Möglichkeiten im Johannesstift der Salesianer; auch Pater Kremer fungierte weiterhin als Gruppenkaplan. Gleichzeitig wurde der Druck auf die ND-Mitglieder und deren Eltern zusehends erhöht. „Viele Eltern, vor allem die Beamten und Lehrer mussten ihre Jungen aus Neudeutschland nehmen und in die HJ tun", notierte Heinrich Kremer Ende 1934, und auch die Schüler selbst sahen sich zunehmendem Zwang zum Austritt ausgesetzt. Wenn der zentrumsorientierte Direktor Vollmann, so erinnert sich einer der Betroffenen, auch versucht habe, den ND am Borbecker Gymnasium zu schützen, „konnte er doch nicht verhindern, dass einige besonders überzeugte Parteigenossen unter unseren Lehrern versuchten, uns zu schikanieren und die Freude am Gruppenleben zu verderben". So ließ einer dieser Lehrkräfte die ND-Mitglieder zu Beginn jeder Stunde aufstehen, um sie als „undeutsch" zu beschimpfen. Solcher Druck schweißte aber auch zusammen, verlieh Stärke und führte nicht selten auch zu Anerkennung. „Und ich muss sagen, dass wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von unseren Klassenkameraden anerkannt wurden, selbst wenn es sich um höhere HJ-Führer handelte." Einer von ihnen sei sogar das Risiko eingegangen, einen Teil der für die ND-Mitglieder angelegten Karteikarten bei der HJ „verschwinden" zu lassen.
Der ND zeigte in Borbeck großes Beharrungsvermögen, und es dürfte für die innere Stärke und das Selbstbewusstsein der von Pater Kremer betreuten Gruppe bezeichnend sein, dass sie selbst es war, die den formalen Austritt aus dem Bund „Neudeutschland" vollzog, ohne allerdings den Gruppenzusammenhalt als solchen aufzugeben - wohl nicht nur für den Essener Raum eine wahrscheinlich einmalige Handlung „Besuche der Eltern, die im Zweifel waren, ob sie ihre Jungen aus ND nehmen sollten", hielt Pater Kremer 1936 fest. Grund für die Unruhe war die Rede des Kaplans Adolf Prohaska am Fronleichnamstag 1936.
Am 22. Mai 1903 in Düsseldorf geboren, war Prohaska seit Juni 1933 als Kaplan an der Pfarre St. Johann in Essen-Altenessen tätig, wo er den wegen seiner antinationalsozialistischen Predigten bekannten und versetzten „Ruhrkaplan" Carl Klinkhammer ersetzte. Die Gestapo, für die er als V-Mann arbeitete, bescheinigte dem Kaplan eine „bejahende, offen hervorgekehrte Einstellung zum nationalsozialistischen Staat", die er auch als Gauführer des Bundes „Neudeutschland" und des weiblichen Gegenstücks „Heliland" zum Ausdruck bringe. Das sei, so berichtete die Gestapo mit einiger Genugtuung, besonders am 11. Juni 1936 - Fronleichnam - sehr deutlich geworden, als Prohaska im Rahmen des von rund 800 Personen besuchten Elternabends der Bünde „Neudeutschland" und „Heliland" im Essener Gesellenhaus „in nicht misszuverstehender Weise" zum Ausdruck gebracht habe, „die Zeit des Kampfes um die deutsche Jugend, speziell zwischen katholischer Jugend und HJ", sei vorbei. „Heute heiße es, stehen und mitarbeiten in den NS-Gemeinschaftsgliederungen, in der HJ, der SA, dem Jungvolk, im Landjahr, in der Armee, die heute der Weg der deutschen Jugend geworden seien. Die „Zukunftsparole" laute „Mehr Liebe zu Deutschland!"
Nach dieser Rede Prohaskas nahmen die bereits zuvor schon vorliegenden Beschwerden gegen seine Person beim Kölner Erzbischof schlagartig zu, wobei die Gestapo ausdrücklich die besondere Rolle der von Pater Kremer geleiteten ND-Gruppe der Salesianer hervorhob, die dem Gauführer die „Gefolgschaft" aufgekündigt habe, „weil sie seine offene nationalsozialistische Einstellung nicht billigte". Die Sicht der Gestapo wird durch Aufzeichnungen von Heinrich Kremer selbst bestätigt: „Fronleichnam hielt Kaplan Prohaska eine eigentümliche Rede im Katholischen Gesellenhaus, in der er die Jugend indirekt geradezu aufforderte, in die HJ zu gehen. Tags darauf erhielt ich viel Besuch von Eltern, die ihre entgegengestellte Meinung ausdrückten. Ich war absolut überrascht über die Ausführungen des Kaplans und habe mich deshalb an den Bundesleiter nach Köln gewandt, indem ich mit meinen Führern nach Köln fuhr. Dort sprach ich am 21. Juni mit Pater Esch. Am 22. erklärte ich meine Abmeldung der Gruppe aus dem Gau, da der Gauleiter mein, der Eltern und der Jungen Vertrauen verloren hätte. Es erfolgten noch viele Unannehmlichkeiten - doch unsere Gruppe blieb stark." - Adolf Prohaska wurde im Übrigen im Januar 1937 als Kaplans an in die Kölner St. Agnes Pfarre versetzt.
Tatsächlich blieb die ehemalige ND-Gruppe im Salesianerheim weitgehend intakt und setzte ihre Arbeit auch nach dem Weggang von Pater Kremer nach Leusden unter dessen Nachfolger Pater Schmeing fort. 1938 kann nochmals „Lager gehalten" werden, bis am 30. Juni 1939 der offizielle Auflösungsbescheid ergeht. Einzelne Fähnlein setzen aber selbst dann ihre Arbeit fort, eins unter der Leitung von Heinrich Bongers sogar bis 1942; hiervon wird noch die Rede sein.
Der größte Teil der Jugendlichen trat jedoch - dem allgemeinen Trend innerhalb der katholischen Jugend entsprechend - sehr bald als Pfarrjugend auf. Ein Beteiligter erinnert sich: „Mit zunehmendem Druck von außen wurde unser Gruppenleben immer schwieriger. In unserem Heim wurde eingebrochen; Elternabende waren kaum noch möglich, weil jeder Erwachsene, der hierher ins Heim kam, von HJ-Führern aufgeschrieben und der Partei gemeldet wurde. Es wurden regelmäßig Kontrollen durchgeführt, um zu sehen, ob keine verbotenen Zeitschriften - und dazu gehörten alle Jugendzeitschriften - im Heim auslagen. Mit Beginn des Krieges konnten wir uns nur noch im Rahmen der Pfarrjugend zusammenfinden. Die Mitglieder der Oberrunde und damit der Führernachwuchs fehlten fast völlig, da sie zum Militär eingezogen waren." Das endgültige Ende des Gruppenlebens kam dann mit der Beschlagnahmung des Johannesstifts durch die Gestapo am 5. August 1941, als die Salesianer binnen zwei Stunden ihr Heim verlassen mussten. „Mit der Beschlagnahme des Klosters", so wieder der damals in der Gruppe aktive Jugendliche, „war dann endgültig alles aus". „Das aber, was wir in unserer Gemeinschaft erarbeitet hatten, hat für die meisten von uns als Richtschnur für das weitere Leben gedient."
[1] Vgl. zum Folgenden neben der bereits genannten Literatur die Artikel in „CC" [Ceterum Censio] der „Gruppen-Zeitung" der KSJ-Gruppe St. Dietgrim am Gymnasium Borbeck" vom Mai 1969. Ausführlich zur Gründungsphase des ND in Essen: Friedrich Klipphahn: Die Entstehung von „Neu-Deutschland" in Essen in den Jahren 1917 bis Ostern 1921 und die Gründung des ND-Ruhrgaues; in: Baldur Hermans/Horst Großjung (Bearb.): Steh auf und geh! Vergangenheit und Gegenwart kirchlicher Jugendarbeit im Bereich des Bistums Essen, Essen 1981, S. 33-78