Dieser umfangreiche Quellenbestand wurde von Andreas Becker zugänglich gemacht, der die Tagebücher zuvor in einem aufwändigen Projekt aufgearbeitet und auf der eigenen Website www.hubert-wilbert.de publiziert hat. Nun stellte er sie in vollem Umfang auch zur Publikation in den EzG zur Verfügung.
Die von ihrem Verfasser als "Kriegserinnerungen" bezeichneten Tagebücher stammen aus der Feder des am 1. November 1925 in Münster geborenen Hubert Wilbert, der dort 1944 sein Abitur ablegte und anschließend ein Studium der Zoologie, Botanik, Chemie und Mathematik an der Universität Münster aufnahm, das er 1952 mit einer Promotion über ein entomologisches Thema abschloss. Anschließend war Hubert Wilbert als Hochschullehrer tätig und lehrte seit 1967 an der Universität Göttingen. Er starb im Oktober 1988.
Entstehungsgeschichte und Verlauf des Projekts beschreibt Andreas Becker so:
„Während der Räumung meines Elternhauses in Göttingen bin ich auf 49 Tagebücher und Notizen meines Stiefvaters Prof. Dr. Hubert Wilbert gestoßen. Ich habe sie in einem stark verschmutzten und maroden Zustand ungeschützt in einer offenen Kiste im hintersten Winkel des Dachbodens gefunden, mit vielen toten und fast toten Insekten darin. Ironie des Schicksals: Hubert war Professor der Entomologie.
Bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs war Hubert 13 Jahre alt. In seinen Tagebüchern beschreibt er in minutiöser und sachlicher Art die Kriegshandlungen in seiner Heimatstadt Münster/Westfalen. Sein authentischer Bericht beginnt in noch etwas kindlicher Handschrift am 01. September 1939 mit den Worten: ‚1. September. Der Krieg Deutschland – Polen beginnt.‘
Von da an berichtet er über jeden Bombenangriff auf Münster (mit exakten Zeitangaben!), wann zu Bett gegangen, wann Fliegeralarm, wann wieder runter in den Keller, welche Bomben fallen, wie die aussehen, wie die sich anhören, welchen Krater welche Bombe macht, wer wann wo genau getroffen wurde und vieles mehr. Zeichnungen, wie die Bomben aussehen, was er konkret gesehen hat und was das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) später im Rundfunk dazu berichtet. Hubert erstellt Tabellen und Listen mit akademischem Anspruch und erlaubt dem Leser ein tiefes Eintauchen in seine Zeit.
Huberts Tagebücher – über 3.600 Oktavheftseiten (teilweise auch dicke Hefte und gekritzelte Listen) – stellen ein seltenes, wenn nicht einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument dar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er krankheitsbedingt nie bei den kämpfenden Einheiten war. Private Kriegstagebücher gibt es ohnehin eher wenige, da eine Führung derartiger Tagebücher aus Geheimhaltungsgründen streng verboten war.
Seine individuellen Eindrücke einer in höchstem Maße schwierigen Zeit spiegeln die zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden Ansichten eines besiegten, am Boden zerstörten Volkes. Wut, Zorn, Angst, Verzweiflung und Trauer können nachfolgende Generationen wohl nur erahnen. Ich kann ich berichten, dass Hubert aus der späteren zeitlichen Distanz manche Ereignisse seines Lebens anders bewertete und neu einzuordnen wusste. Diese Tagebücher eines Jungen, der zu Hause blieb und den Pflichtdienst im RAD (Reichsarbeitsdienst) versah, sind daher etwas Außergewöhnliches. Es ist mein Wunsch, dass diese Aufzeichnungen für Schüler, Studenten und alle Interessierten frei zugänglich sind.
Die Tagebücher wurden handschriftlich in „Sütterlin“ verfasst und sind für mich nur sehr schwer oder nicht lesbar. Ich habe deshalb alle Seiten zunächst fotografisch reproduziert und danach transkribieren lassen. Zu ganz besonderem Dank verpflichtet bin ich Herrn Ernst-Peter Winter vom Heimat- und Geschichtsverein Münster e.V. (Münster in Hessen): Er hat die Texte nicht nur in die aktuelle deutsche Schrift transkribiert, sondern auch viele Originalschauplätze auf historische und geografische Richtigkeit hin überprüft. Ohne seine Kenntnisse der alten Kurrentschrift und seinen unermüdlichen Fleiß verbunden mit akribischer Genauigkeit wäre die nachfolgende Darstellung der Tagebücher wohl nicht möglich gewesen. Ernst-Peter Winter, Jahrgang 1953, betreibt seit über 40 Jahren Familienforschung (Genealogie) und leitet seit über 10 Jahren einen monatlich stattfindenden Lesekreis „Alte Schriften”.
Die gesamte Ausgabe der Tagebücher, d.h. die Faksimiles und zeilengenaue Transkription, stehen als PDF auf der bereits genannten Website www.hubert-wilbert.de zum Download bereit. Hier werden auch sämtliche am privat initiierten und finanzierten Projekt Beteiligten genannt.
Andreas Becker weist darauf hin, dass die Tagebücher für private Zwecke, insbesondere für Referate, wissenschaftliche Arbeiten und zu Studienzwecken sowie für Archive und Museen in unveränderter Form vollständig oder teilweise mit Quellenangabe zitiert, veröffentlicht und der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden dürfen. Eine kommerzielle Verwertung jedweder Art bedarf hingegen einer schriftlichen Vereinbarung mit ihm. Die hierzu notwendigen Kontaktdaten sind ebenfalls der genannten Website zu entnehmen.
Seitens des NS-Dokumentationszentrums gebührt Andreas Becker großer Dank für sein Entgegenkommen und die unkomplizierte Kooperation. Alle Beteiligten hoffen, dass die Tagebücher von Hubert Wilbert von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen und sowohl seitens der Forschung als auch in Schulen genutzt werden.