Die Einnahme Jüchens durch US-Truppen habe sie, so erzählt Irmgard Coenen, „in bester und schlechtester Erinnerung – kann man beides sagen“. An diesem 28. Februar habe sie mit Mutter und Geschwistern wie so häufig im Keller gesessen. „Wir saßen unten und hörten oben Klopfen auf unserer Haustür. Wir hörten unangenehmes Geschrei von Erwachsenen und Poltern.“ Es habe sich aber niemand im Keller bewegt und sei nach oben gegangen, von wo für sie „unverständliche englische Worte“ gerufen worden seien. Dann endlich habe ihre Mutter gefolgt vom Pflichtjahrmädchen Magdalene und den drei kleinen Töchtern den Weg nach oben gewagt, wo „fremdartige“ und „verschmutzte“ alliierte Soldaten gestanden hätten. „Bedrohliche Figuren standen in unserer Küche und schrien uns an, dass wir da schnellstens rauskommen müssten.“ Anschließend werden die fünf auf den Markt hinaus getrieben – „ja, das war getrieben“.
Die Situation ist für die neunjährige Irmgard völlig unbegreiflich. „Das war neu, wie irgendetwas im Leben nur neu sein kann.“ Sie und ihre Geschwister sind völlig unvorbereitet. Mir ihr, so beteuert Irmgard Coenen sei zuvor mit niemandem über das gesprochen worden, was das Kriegsende bedeuten könne. Die Lage wird für die Familie noch durch eine Vergesslichkeit der Mutter verschärft, die es in der Aufregung versäumt hat, eine im Keller als Staubschutz verwendete Hakenkreuzfahne vor dem Eintreffen der US-Truppen zu entfernen. „Ganz plötzlich sagte meine Mutter zu mir: ‚Wir haben die Fahne vergessen! Die Hakenkreuzfahne hängt im Keller.‘“ Die aufsteigende Panik der Mutter überträgt sich umgehend auf Irmgard, und die Familie fürchtet nun, seitens der Amerikaner als „richtige Nazis“ identifiziert zu werden, die sie ja gerade nicht gewesen sind. Diese große Angst bleibt während der nun folgenden Stunden auf dem Marktplatz stets präsent.
Dort stehen bei ihrem Erscheinen schon sehr viele Jüchener. „Ich als Kind hatte sofort das Gefühl: Wir werden jetzt alle erschossen“, erinnert sich Irmgard Coenen bis heute mit ungutem Gefühl. Rund um den Markt stehen zahlreiche Panzer, deren Kanonen auf die auf dem Platz versammelten Menschen gerichtet sind. „Für mich war das – bis heute – äußerst bedrohlich“, nicht zuletzt, weil diese Erlebnisse später nie „psychologisch aufgearbeitet“ werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Irmgards Mutter nicht in der Lage ist, ihren Töchtern tröstend beizustehen. Sie sei derartig aufgeregt und besorgt gewesen, dass sie kein Zeit für beruhigende Worte gefunden habe. „Da habe ich meine Mutter erlebt: Die hat die gleiche Angst wie ich, und das war für mich noch eine weitere Schwierigkeit, das zu verarbeiten.“
Aber auch alle anderen Menschen auf dem Markt, so erinnert sich Irmgard Coenen an den 28. Februar 1945 zurück, hätten einen „Eindruck der Unsicherheit“ vermittelt. „Was kommt auf uns zu? Was wird mit uns geschehen? Werden wir jetzt mal kurz erschossen?“ Das Stehen und Warten auf dem Markt zieht sich über Stunden hin. Besonders in Erinnerung blieben ihr auch die in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten, die mit dauerhaft erhobenen Händen ausharren müssen. Auch das sei ein Bild gewesen, das sich ihr wie anderen Kindern dauerhaft „eingebrannt“ und absolut nichts mit einem guten Gefühl von Befreiung zu tun gehabt habe. Dieser Tag, an dem sie erstmals „dunkelhäutige Menschen“ sieht, ist für die knapp Zehnjährige von Todesangst bestimmt. „Das war das Schrecklichste, was ich im Leben bisher erlebt habe. Den ganzen Tag über ist bei mir die Angst geblieben: Heute Abend sind alle Menschen hier auf dem Markt tot!“
Auch Hubert Knabben erlebte die Besetzung Jüchens hautnah mit. Bereits am Vortag, den 27. Februar, so erinnert er sich, seien einige Geschosse im Ort eingeschlagen, weshalb die Familie umgehend den Luftschutzkeller aufgesucht habe, während die einquartierten Soldaten Jüchen „fluchtartig“ verlassen hätten. „Morgens ging es dann los.“ Zunächst nimmt man Panzerbeschuss und Maschinengewehrfeuer wahr, was für Hubert aufgrund allerdings „nichts Neues“ mehr ist. Nun werden allerdings neben einigen Privathäusern auch die Schule und die Kirche durch Panzergeschosse in Mitleidenschaft gezogen. „Dann wurde es auf einmal still. Und dann hörte man auf einmal Englisch-Sprechen auf der Straße.“ Darauf habe sein Vater gerufen „Do kumme se!“, sei die Kellertreppe hochgelaufen und habe den bereits im Hausflur stehenden US-Soldaten entgegengerufen „Nix Soldat, nix Soldat!“ Alle im Keller Versammelten müssen das Haus verlassen und sich mit anderen Bewohnern der Steinstraße auf einem kleinen Platz in der Nähe von Haus Katz aufstellen. „Meine Schwestern hatten sehr große Angst. ‚Die erschießen uns, die Amerikaner!‘“ Irgendwann habe es dann geheißen: „Alle Bürger auf den Marktplatz!“
Dort habe man dann stehen und warten müssen. „Panzer an Panzer und Kanone an Kanone“ seien aus Richtung Garzweiler und Priesterath durch Jüchen gezogen – „pausenlos den ganzen Tag“. Hubert steht mit seinem Vater direkt an der Bordsteinkante, um das Geschehen genau beobachten zu können. Dabei hört er, wie ein älterer Mann habe angesichts des gewaltigen Truppenaufmarschs ungläubig fragt: „Un jejen su jet well Deutschland dä Kräch jewenne?“ Bis vier Uhr nachmittags dauert das Spektakel. Erst danach dürfen die Jüchener wieder nach Hause gehen.
Im Hause Knabben gibt es nun neue Einquartierungen. US-Soldaten, so erinnert sich Hubert Knabben, seien an den Häusern entlanggegangen und hätten außen mit Kreide die Zahl der in dem jeweiligen Haus unterzubringenden Soldaten notiert. Für sein Elternhaus habe die Anzahl zunächst fünf, dann zehn und schließlich 20 betragen. Der Grund sei vielleicht das im Wohnzimmer stehende Klavier gewesen, was für die Kampftruppe eine ersehnte Abwechslung dargestellt habe. Die Soldaten „tischen auf“ und feiern und der zehnjährige Hubert kann das erste Mal nach Jahren wieder Schokolade essen. „Das war für mich was ganz Besonderes.“ – Am nächsten Tag zieht die Kampftruppe weiter und wird in Jüchen durch Besatzungstruppen ersetzt.
Um die Besatzer unterzubringen müssen sämtliche Bewohner der oberen Steinstraße ihre Häuser verlassen und sich anderweitige Unterkunft besorgen. Familie Knabben kann im Haus verbleiben und nimmt in dieser ersten Phase der Besatzung Nachbarn und Freunde auf. „Wir lebten dann da, so gut es eben ging.“ Das sei manchmal sogar angenehm gewesen, entsinnt sich Hubert Knabben. Seine drei älteren Schwestern bekommen häufig Besuch von Freundinnen. „Wir saßen dann abends zusammen. Da wurde gesungen. Das war also eigentlich eine schöne Zeit.“
Als bald die meisten Besatzungstruppen wieder abziehen, beherbergen die Knabbens im ersten Stock ihres Hauses noch für etwa ein halbes Jahr eine Rote Kreuz-Einheit der Amerikaner. „Wir waren geduldet.“
Als Familie Krapohl am Nachmittag des 28. Februar 1945 wieder nach Hause kommt, stellt sie erleichtert fest, dass in ihrem Haus entgegen aller Befürchtungen „überhaupt nichts passiert“ ist. „Die Fahne hing noch unten. Die hat meine Mutter dann sehr schnell einkassiert“, um für ihre Töchter daraus Schürzen zu nähen – eine damals geläufige Form der Entnazifizierung! Auch die Krapohls müssen in den ersten Tagen nach der Besetzung Zimmer räumen, um US-Soldaten unterzubringen. Das nimmt Irmgard aber nicht als große Belastung wahr, sondern ist einfach nur froh, dass die Luftangriffe und Bombenabwürfe ihr endgültiges Ende gefunden haben. Es habe, so erinnert sie sich, das Gefühl dominiert: „Endlich kann ich wieder oben in meinem Bett schlafen!“ Dieses „Stück Befreiung“ habe sie allerdings nicht auf die Anwesenheit der Besatzer zurückgeführt, sondern allein darauf, dass der Krieg endlich zu Ende gewesen sei. „Ich war nur froh, dass keine Flugzeuge mehr kamen, dass meine Mutter nicht mehr ständig mit dem Fahrrad nach Rheydt fuhr und nach ihren Eltern sah.“
Als besonders bedrückend empfindet es Irmgard, dass seit der zweiten Jahreshälfte 1944 jegliche Nachricht von ihrem Vater von der Ostfront ausgeblieben ist – ein Schicksal, das die Krapohls mit vielen anderen Jüchenern teilen. Als dann Transporte mit deutschen Soldaten – wahrscheinlich auf dem Weg ins nahegelegene Kriegsgefangenenlager Wickrathberg – durch Jüchen kommen, hofft Irmgard vergeblich darauf, dass ihr Vater sich unter ihnen befindet. „Urplötzlich“ steht er dann aber bereits im Juni 1945 vor der Tür. Allerdings erzählt Wilhelm Krapohl dann im Familienkreis zeitlebens nichts über seine Kriegserlebnisse. Immerhin erfährt Irmgard später, dass er sich offenbar mit dem letzten Schiff, das Russland über die Ostsee verließ, nach Westen absetzen konnte. Dort geriet er dann für kurze Zeit in englische Gefangenschaft, wo er sich auf Nachfrage als Landarbeiter ausgab und daher schnell entlassen wurde. Erst damit beginnt für die Familie die Nachkriegszeit, in die man nach Rückkehr des Ehemanns und Vaters halbwegs optimistisch starten kann.