Das "Polenlager"

Irmgard Coenen kann sich noch gut darin erinnern, dass während des Krieges polnische und russische Frauen in den örtlichen Textilfabriken arbeiteten. Zwar hätten die Jüchener Kinder keinerlei Kontakt zu den Zwangsarbeiterinnen gehabt, „aber wir sahen diese Mädchen, wie sie in der Fabrik auch lebten“. Durch Kleidung und Verhalten hätten die Kinder instinktiv bemerkt: „Sie waren schon andere Personen.“

Dann kommt der Einmarsch der US-Armee: „Diese Leute waren mit dem 28. Februar nicht mehr Zwangsarbeiterinnen, sondern freie Menschen.“ Das bringt eine erhebliche Verschiebung der Autoritäten mit sich: „Sie nahmen nun die Stelle ein, die zuvor ihr Arbeitgeber eingenommen hatte. Sie vertrieben ihn aus dem Haus und nahmen sein Haus teilweise in Besitz.“ Auch die Familie ihrer Freundin, vermögende Fabrikbesitzer, muss ihre hochherrschaftliche Villa verlassen und kommt in einem kleinen Zimmerchen in der elterlichen Wohnung von Irmgard Coenens späteren Ehemann unter. „Sie haben hier mit mehreren Familienangehörigen äußerst einfach gelebt.“ Dieses Schicksal der Zwangsausweisung hätten damals viele Bewohner der Kölner Straße teilen müssen.[1]

Die Freude der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter über ihre Befreiung paart sich mit Wut und findet ihren Ausdruck in oft von Zerstörungswillen begleitetem Aktionismus. „Das haben wir als Kinder gesehen: Sie warfen Möbel aus den Fenstern.“ Ob das aus Rache geschehen sei oder einfach, weil man für so viele Leute habe Platz schaffen müssen, könne sie nicht beurteilen erzählt Irmgard Coenen und betont, eine solche Aktion nur einmal selbst beobachtet zu haben. „Aber das hat uns als Kinder schon sehr erschüttert.“

Auch in ihr Elternhaus wird für kurze Zeit eine Familie mit zwei Töchtern eingewiesen, die ihre Wohnung in der Steinstraße verlassen muss. „Wir haben die Leute nicht so unwahrscheinlich freundlich aufgenommen“, umreißt Irmgard Coenen selbstkritisch die damalige Grundstimmung im Ort. Man habe nicht etwa miteinander Kaffee getrunken oder sich freundlich unterhalten. „Das war schon eine Zwangseinweisung“, betont sie.

 

Angesprochen auf das Verhalten der befreiten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erinnert sie sich insbesondere an die völlige Plünderung der Gärten, über die die meisten Häuser am Jüchener Markt damals verfügt hätten. Durch die unmittelbare Nachbarschaft zur Kölner Straße sei nachts aus den Gärten „alles, was nicht niet- und nagelfest“ gewesen sei, geraubt worden. Es habe damals eine allgemeine Angst sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen vor Übergriffen durch Polen geherrscht, erzählt Irmgard Coenen weiter. Die sei insbesondere aus der Kenntnis von mehreren Todesfällen erwachsen, die es in der Jüchener Gegend im Zuge nächtlicher Überfälle gegeben habe.

 

Auch Hubert Knabben kann sich gut erinnern, dass die Häuser der Kölner und Neußer Straße sowie der Friedhofstraße mit polnischen Zwangsarbeitern belegt gewesen seien. Die in ihrer übergroßen Mehrheit katholischen Polen hätten jeden Sonntagmorgen einen „großen Umzug“ von der Kölner Straße zur Kirche veranstaltet, dabei die polnische Nationalhymne gesungen und anschließend die Messe besucht. Es seien verschiedentlich auch Fußballspiele zwischen den DPs und Viktoria 09 Jüchen ausgetragen worden.

Solche Veranstaltungen können aber nicht über die „großen Spannungen“ hinwegtäuschen, die den Ort wegen des „Polenlagers“ beherrschen. Das betrifft nicht zuletzt deren Umgang mit dem fremden Eigentum, das sie bewohnen. Wenn beispielsweise im Winter Brennmaterial gefehlt habe, so erzählt Hubert Knabben, seien in den Häusern einfach die Treppenländer abmontiert und verheizt worden. „Alles, was brennbar war, wurde verbrannt.“

Auch an die „Raubzüge“ der ehemaligen Zwangsarbeiter, die ja tatsächlich wenig zu essen gehabt hätten, kann er sich erinnern. Dabei seien etwa in Priesterath eine Bäuerin und deren Tochter ums Leben gekommen, als die Polen, nachdem ihnen Unterstützung verweigert worden war, Handgranaten ins Haus geworfen hätten. Nachdem die Militärregierung, um der Lage Herr zu werden, die Sichtschutz gebenden Hecken weggebaggert hätten, sei es vereinzelt sogar vorgekommen, dass Amerikaner auf Polen und Polen auf Amerikaner geschossen hätten. „Das war keine schöne Sache“, fasst Hubert Knabben die damaligen Konflikte zusammen.

 
Fußnoten

[1] Zum sogenannten „Polenlager“ in Jüchen vgl. ausführlich Rüther, Flüchtlinge und Vertriebene, S. 206ff.