Was sind Quellen? Wie geht man professionell-kritisch mit ihnen um? Diese Fragen werden in der „Kleinen Quellenkunde“ ebenso beantwortet wie umfassend über einzelne Quellengattungen, ihre jeweiligen Stärken und Schwächen sowie ihre Bedeutung für die historische Forschung informiert wird. Ob Zeitungen, Tagebücher, Briefe, Film oder Oral History – all diese und noch weitaus mehr Arten historischer Quellen werden hier vorgestellt und diskutiert.
Mündlich erzählte Geschichte hat eine lange Tradition, die bis weit in die Antike zurückreicht und lange vor der schriftlichen Aufzeichnung in oralen Kulturen praktiziert wurde. Oral History als moderne historiographische Methode hat seine Wurzeln hingegen in den 1940er Jahren und diente zunächst in den USA, später auch in Großbritannien, dem Aufzeichnen, Festhalten und Archivieren „authentischer“ Geschichtserfahrungen, wodurch erstmalig auch die subjektiven Erfahrungsgeschichten der Arbeiterklasse oder der Frauengeschichte in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückten. Dabei ging es bald nicht mehr nur um eine historiographische Darstellung unterdrückter Bevölkerungsgruppen, sondern auch um die Veränderung und Liberalisierung politischen Bewusstseins, wie es dann kennzeichnend für die gesamte Entwicklung der Oral History wurde. Die 1960er und 1970er Jahre gelten allgemein als erste Blütezeit der neueren Oral History – mit eindeutigem Schwerpunkt in den USA und in Großbritannien.[1]
Kurze Zeit darauf hielt diese neue Art der Geschichtsbetrachtung aber auch in Deutschland Einzug, als sich die Methode der Oral History in den späten 1970er Jahren auch in Deutschland zu etablieren begann. Hierbei stand zunächst vorrangig der Versuch im Mittelpunkt, nicht mehr nur den „Großen und Mächtigen“ Interesse entgegenzubringen, sondern sich nun auch mit den bis dahin zumeist nur als Objekte der großen historischen Prozesse wahrgenommenen Subjekten selbst zu beschäftigen, ihnen eine Stimme zu geben und so „ihre Erfahrungen, ihre Deutungen und ihre soziale Praxis als eigenständige historische Leistung“ anzuerkennen. In „Geschichtswerkstätten“ und anderen zumeist lokal forschenden, oft bunt zusammengesetzten Gruppen wurde mit großem Engagement versucht, die „kleinen Leute“ der Geschichte und die Geschichte wiederum ihnen selbst zurückzugeben. Als spezifisch deutsches Problem der Oral History spielte von Beginn an die NS-Vergangenheit eine erhebliche Rolle. Gerade diese Fokussierung ließ aber viele Historiker von vornherein gegenüber den „Stimmen aus der Vergangenheit“ skeptisch sein, weil viele von ihnen – und sicherlich nicht immer ganz zu Unrecht - in den Erinnerungen der Zeitzeugen Reinwaschung oder zumindest gravierende Auslassungen erwarteten bzw. unterstellten.[2]
Bei der „Oral History“ im modernen Sinn handelt es sich also um eine relativ junge geschichtswissenschaftliche Praxis, die vor allem in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat, jedoch bis heute in verschiedener Hinsicht umstritten ist. Von den einen als „Metakonzept“ oder gar als „kulturwissenschaftliches Paradigma“ gefeiert, stehen andere Historiker der Oral History als „Tanz um das goldene Kalb der Erinnerung“ sehr skeptisch gegenüber.[3] Dabei wird neben der anhaltenden Diskussion um den Begriff selbst (und seine möglichen Alternativen) auch der Stellenwert dieses Ansatzes innerhalb der Geschichtswissenschaft immer wieder thematisiert und im Rahmen oft heftiger Diskussionen unter anderem gefragt, ob es sich hierbei um eine Forschungstechnik bzw. –methode oder um eine eigenständige Teildisziplin der Historiographie handelt. Im Zentrum der Kontroverse steht jedoch trotz zunehmender Anerkennung bis heute die Frage der Wissenschaftlichkeit bzw. die oft unterstellte mangelnde theoretische Fundierung der Methode.
Jenseits solch eher akademischer Diskussion lassen sich zunehmend Entwicklungen im Medienangebot und Medienkonsum beobachten, die es notwendig erscheinen lassen, die Auseinandersetzung über den Sinn, insbesondere aber über die (Aus-) Wirkungen von Oral History öffentlich zu führen. „Zeitzeugen sterben heute nicht wie früher“, stellte Alexander von Plato bereits im Jahr 200 fest, sondern sie hätten „ein langes mediales Nachleben“. „Ihre Aussagen sind nicht mehr nur durch Schriften und Protokolle, sondern authentisch auch durch Tonbänder, durch digitale Filme, durch das ‚Stellen‘ ihrer Zeugnisse ins Internet für die Zukunft erhalten und sind daher schnell historische Quellen für die jeweilige Gegenwart des Erzählens.“ Damit würde auch das Artefakt „Interview“ unmittelbar nach seiner Entstehung „zu einer historischen Quelle zumindest für das Verstehen der Zeit seines Entstehens“.[4]
Michael Wildt stellte ganz in diesem Sinne acht Jahre später fest, dass der im Zuge des Medienzeitalters zwischenzeitlich erreichte Grad an Visualität und Audiovisualität eine veränderte Definition von „Zeitgeschichte“ und „Zeitzeugen“ erfordere. Letztere würden „ein unerlässliches Element in den Fernsehdokumentationen zur Zeitgeschichte und speziell zur Geschichte des Nationalsozialismus“ darstellen und dabei den unbedingten „Eindruck von Authentizität“ vermitteln. Würde Historikern in solchen Kontexten als „Experten“ lediglich eine eher kontextualisierende Funktion zugewiesen, würde den Zeitzeugen die „dramaturgische Aufgabe“ zukommen, zu sagen, „wie es wirklich gewesen ist“ – und was sie dabei empfunden hätten. Hieraus resultierende eine beachtliche Steigerung von deren Bedeutung: „Die Präsenz, Unmittelbarkeit und emotionale Kraft der Bilder gemeinsam mit der Stimme des Zeitzeugen erheben heute den Anspruch, Geschichte zu zeigen, während die distanzierende Schrift, das abwägende geschriebene Wort, der zweifelnde, offene Text – das dominierende Medium der Geschichtswissenschaft – bei der televisuellen Geschichtsvermittlung in den Hintergrund treten und höchstens noch als gesprochenes Wort in den Filmen vorkommen.“ Gerade durch die systematische Sammlung solcher Zeitzeugenerinnerungen würde daher auch nach deren Tod das „kommunikative und kulturelle Gedächtnis“ weiterhin miteinander verknüpft und nachhaltig bestimmt.[5] Das Medium, so definiert Michael Wildt die weitreichenden Folgen, würde „den Modus der Konstruktion von Geschichte ebenso wie die Rolle des wissenschaftlich arbeitenden Historikers“ und damit schlussendlich auch „den Umgang mit Geschichte und die Genese von Geschichtsbewusstsein“ verändern. Man müsse, so die hieraus abgeleitete Forderung, „über den Begriff und die Methoden der Zeitgeschichte im Zeitalter (audio)visueller Kommunikation, medialer Speicherung und Vergegenwärtigung von Vergangenheit neu nachdenken müssen“.[6]
[1] Heinze, Geschichte, S. 9f.
[2] Wierling, Oral History, S. 85
[3] Dejung, Oral History, S. 96
[4] Vgl. Plato, Zeitzeugen, S. 16
[5] Dorothee Wierling verweist in diesem ontext auf Jan Assmann, der zwischen „kommunikativen“ und „kollektivem“ Gedächtnis unterscheide, „wobei das erstgenannte Gegenstand der Oral History ist, nämlich das Gedächtnis als persönliches Produkt und sozialer Prozess“. Wierling, Oral History, S. 101
[6] Wildt, Epochenzäsur
zuletzt bearbeitet am: 17.04.2016