"Flucht und Vertreibung“ war ein dominierendes Thema der Nachkriegszeit. Zwischen 1944 und 1948 waren in Deutschland und in Europa rund hundert Millionen Menschen „unterwegs“, die ihre Heimat für immer oder für längere Zeit verlassen mussten. Die Welt erlebte damals die zahlenmäßig größte Wanderung der Geschichte überhaupt. In Deutschland hielten sich 1945 zwei Drittel der Bevölkerung nicht an ihren angestammten Wohnplätzen auf. Und ob die Menschen, die das Schicksal zusammenführte, das nun wollten oder nicht, sie waren dauerhaft zum Zusammenleben gezwungen.
„Flucht“ und „Flüchtlinge“ sind in den letzten Jahren zu Kernbegriffen der aktuellen politischen Diskussion geworden und bestimmen nicht nur die Meldungen und Bilder der Massenmedien, sondern in erheblichem und oft bedenklichem Maße das politische Klima in Deutschland und in Europa.
Die Jahre zwischen 1944 und 1948 waren in Deutschland von einer ausgeprägten Ungleichzeitigkeit „großer“, weltpolitisch relevanter Geschehnisse vor allem an den Reichsgrenzen im Westen und im Osten und lokaler Ereignisse in Dörfern und Städten geprägt. Aber gleichgültig, ob „groß“ oder „klein“ – stets waren von den jeweiligen Auswirkungen Menschen betroffen, die das Schicksal auf ihrem weiteren Weg dann häufig im „Kleinen“ zusammenführte und, ob sie nun wollten oder nicht, zum Zusammenleben zwang. Diesen von ungezählten negativen, durchaus aber auch positiven Begleiterscheinungen gesäumten Weg gilt es im Folgenden so nachzuzeichnen, dass alle mit den großen Bevölkerungsverschiebungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammenhängenden Erscheinungen, Probleme und Chancen zumindest in Ansätzen verständlich und nachvollziehbar werden.
Während des Kriegs und danach waren in Europa etwa hundert Millionen Menschen „unterwegs“, die ihre Heimat für immer oder für längere Zeit verlassen mussten.[1] Insgesamt erlebte die Welt in diesem Zeitraum die zahlenmäßig größte (Zwangs-) Wanderung der Geschichte überhaupt.[2] Mit Blick auf Deutschland hielten sich 1945 rund zwei Drittel der Bevölkerung nicht an ihren angestammten Wohnplätzen auf. Hinzu kamen verschiedene „Ungleichzeitigkeiten“, denn bereits in der Datierung des Kriegsendes unterschieden sich die Perspektiven erheblich: Das „private“ Ende des Krieges war für viele nicht identisch mit dem „offiziellen“ der Kapitulation am 8. bzw. 9. Mai 1945, denn die meisten Menschen waren bereits zuvor von alliierter Besetzung betroffen, während andere noch jahrelang in Gefangenschaft ausharren mussten oder sich auf der Flucht befanden. Daher dürfte wohl nur eine Minderheit der Deutschen das Kriegsende als „Befreiung“ empfunden haben.[3]
Ein solches Szenario erfordert einen entsprechend umfassenden Ansatz. So gilt es die Ereignisse im damaligen Osten Deutschlands ebenso nachzuzeichnen wie die daraus resultierenden Folgen der Flucht und der nach Kriegsende einsetzenden Vertreibungen. Wie wollte man sonst Gemütslage, Verhalten und Perspektiven jener verstehen, die auf oftmals verschlungenen, in aller Regel dramatischen (Um-) Wegen ihren Weg von dort in den Westen fanden? Es gilt auch danach zu fragen, wie Besiegte und Sieger auf die völlig unübersichtliche, weil bis dahin einmalige „Völkerwanderung“ von Ost nach West reagierten. Aber natürlich gilt es auch die Lage im Westen Deutschlands zu ergründen. Wie wirkten sich Bombenkrieg und Evakuierungen, der Einmarsch der alliierten Streitkräfte und die damit verknüpfte Befreiung der so zahlreichen, während des Krieges zur Arbeit nach Deutschland gezwungenen und nun als „Displaced Persons“ geltenden Menschen aus? Wie versuchte man der zahllosen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Ort Herr zu werden, und wie reagierten die Verantwortlichen und die einheimische Bevölkerung dann auf den immer weiter anschwellenden Zuzug Geflohener und Vertriebener in ihre Kleinstädte und Dörfer? Wie veränderte sich die Stimmungslage, als klar wurde, dass es sich hierbei nicht um ein kurzes Nachkriegsintermezzo, sondern um einen Dauerzustand handelte? Und wie wiederum verhielten sich die entwurzelten Ankömmlinge dort, wo nun dauerhaft ihre neue „Heimat“ sein sollte? Wie arrangierten sie sich mit der erzwungenen Situation? Zeigten sie sich integrationswillig oder hofften sie doch weiterhin auf ihre Rückkehr?
Das alles gilt es zu untersuchen und mit- und gegeneinander abzuwägen, um ein halbwegs nachvollziehbares Bild der beispiellosen Konstellation jener Jahre zeichnen und damit zum Verstehen beitragen zu können. Es gilt also die Rahmenbedingungen aufzuzeigen und die damaligen Ereignisse in Ost und West in ihren Abläufen und Auswirkungen in groben Zügen zu skizzieren, um so zu gewährleisten, dass sowohl die individuellen Schicksale von Flüchtlingen und Vertriebenen als auch das Verhalten der Angehörigen der „Aufnahmegesellschaft“ im Westen besser verstanden und eingeordnet werden können. Dass das für den Osten und den Westen Deutschlands getrennt geschieht, ist naheliegend und wird insbesondere den zahlreichen Ungleichzeitigkeiten der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs gerecht.
Zuvor gilt es Begrifflichkeiten und damit die Frage zu klären, ob denn nun von „Flüchtlingen“ oder „Vertriebenen“ die Rede sein sollte. „Flucht und Vertreibung“, so Mathias Beer, seien in der deutschen Sprache zu einer „Chiffre“ geworden, die „für die gewaltsame, Hunderttausende von Opfern fordernde Verschiebung von mehr als zwölf Millionen Deutschen und damit für den zahlenmäßig größten Teil der europäischen Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ stehe. Zugleich stellt er klar, dass es sich hierbei keineswegs um ein „punktuelles Ereignis“, sondern um „einen zeitlich weit gestreckten Prozess“ gehandelt habe, der mit den Umsiedlungen „Volksdeutscher“ zu Beginn des Zweiten Weltkriegs begonnen und dann bis in die 1950er Jahre gedauert habe. Dabei umfasse das zumeist verwendete Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ ein „breites Spektrum an Erscheinungsformen“.[4]
Das lässt sich nur schwerlich exakt unter einen Begriff subsumieren. Zunächst, so analysiert Andreas Kossert, habe man für die Heimatlosen Bezeichnungen „von größter Beliebigkeit“ verwendet und von Aussiedlern und Vertriebenen, von Flüchtlingen, Ostvertriebenen, Heimatvertriebenen, Ausgewiesenen und Heimatverwiesenen gesprochen.[5] Seit 1947 habe sich dann allerdings allmählich die Bezeichnung „Vertriebene“ durchgesetzt. Beim Versuch einer genaueren Definition hebt er hervor, dass es keine gemeinsame Geschichte aller Vertriebenen gebe; „zu verschieden sind deren Schicksale und Erfahrungen“.[6] Kossert entscheidet sich wie viele Forschende vor und nach ihm recht pragmatisch, indem er sich an gesetzlichen Vorgaben orientiert: Weil das „Bundesvertriebenengesetz“ (BVFG) von 1953 das Wort „Flüchtling“ für diejenigen reserviert habe, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geflohen seien, verwendet er „der Einfachheit halber“ in seinen Untersuchungen den Begriff „Vertriebene“.[7] Auch die unmittelbar von den damaligen Geschehnissen Betroffenen favorisieren in ihrer Mehrheit diese Bezeichnung. Wenn hier hingegen „Flüchtlinge“ und „Vertriebene“ synonym verwendet werden, hat das mehrere Gründe: Zum einen nutzen auch die befragten Zeitzeugen beide Begriffe. Unter ihnen befinden sich zudem solche, deren erste Station zunächst die SBZ bzw. die DDR war, von wo aus sie dann in den 1950er Jahren in die Bundesrepublik wechselten. Für sie würden gemäß der im BVFG gegebenen Definition beide Begriffe zugleich zutreffen.
[1] Vgl. Nonn, Migrationsgeschichte, S. 86
[2] So Halder/Serrer, Weg, S. 7
[3] So Plato/Leh, Frühling, S. 11
[4] Beer, Vertreibung, S. 39
[5] In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Verwirrung noch dadurch ausgeweitet, dass die britische Militärregierung unter dem Begriff „Flüchtlinge“ sämtliche Menschen subsumierte, „die nach Hause wollen oder kein Heim haben und der Unterstützung bedürfen“. Hierunter wurden neben den „Ausgewiesenen“ auch die Gruppen der Evakuierten und aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrende Soldaten gefasst. Vgl. hierzu die im Februar 1946 veröffentlichte Broschüre „Ziele und Erfolge der Militärregierung in dem Britischen Kontrollgebiet“. Ein Exemplar findet sich im KAN, C 812.
[6] Anfang 1947 unternahm das NRW-Sozialministerium den Versuch einer Definition des Begriffs „Flüchtling“ der synonym zu den Begriffen „Ausgewiesene“ und „Vertriebene“ benutzt wurde. Vgl. dazu Sozialministerium der Landesregierung NRW: Flüchtlingsbetreuung in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1947, S. 35.
[7] Kossert, Heimat, S. 9f. So auch schon Dagmar Kift, die mit Blick auf das BVFG resümiert, es habe die lange vorherrschende Bezeichnung „Flüchtling“ für alle aus dem Osten zugewanderten Deutschen neu definierte: „Die Deutschen aus den mit der Potsdamer Erklärung 1945 unter polnische bzw. sowjetische ‚Verwaltung‘ gestellten Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den mittelalterlichen wie neuzeitlichen deutschsprachigen Siedlungsgebieten im gesamten östlichen Europa wurden nun als ‚Vertriebene‘ bezeichnet - im Unterschied zu den ‚Flüchtlingen‘ aus der DDR.“ Kift, Aufbau, S. 22
zuletzt bearbeitet am: 15.01.2018