Die Geschichte von „Jugend“ folgt sicherlich allgemeinen Entwicklungen und „großen“ Linien. „Erfahrbar“ und nachvollziehbar wird sie aber zumeist erst am konkreten Beispiel eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region, das quasi mikroskopische Einblicke in Prozesse gewährt, die dem Betrachter beim Blick auf das reichsweite „große Ganze“ verborgen bleiben müssten. In den hier versammelten Beiträgen werden daher die jeweiligen Bedingungen vor Ort in den Mittelpunkt gerückt, um so die „Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“ für die jeweiligen Themenaspekte auszuloten.
Minden war Sitz zahlreicher Verwaltungsinstanzen: Hier residierten der Regierungspräsident und der Landrat des gleichnamigen Regierungsbezirks und Kreises, Oberpostdirektion und Amtsgericht, Handelskammer und Hauptsteueramt hatten hier ihren Sitz. Außerdem waren hier dauerhaft Truppen der Reichswehr stationiert.[1]
Nachdem die Stadt im Jahr 1890 erst 20.2233 Einwohner (16.76 evangelisch, 3.147 katholisch und 240 jüdisch) gezählt hatte, war diese Zahl über 27.139 (23.426 - 3.064 - 233) im Jahr 1925 bis 1933 auf 28.764 (24.794 – 3.339 – 192) angestiegen. 86,2 Prozent der Bevölkerung stellten somit die Protestanten, während lediglich 11,6 Prozent der Mindener katholisch waren. Im Mindener Kreisgebiet war diese Diskrepanz im religiösen Bekenntnis noch weitaus ausgeprägter. Von den 130.064 im Jahr 1933 im Kreis Minden lebenden Menschen waren 122.913, also 94,5 Prozent, evangelischen Bekenntnisses, denen nur 5.487 (4,2 Prozent) Katholiken gegenüberstanden.
Das Minden der Weimarer und NS-Jahre war also eine preußische Militär- und Beamtenstadt, ja für viele gar die „preußischste Stadt Westfalens“. Bereits im 19. Jahrhundert galt das Städtchen und sein Umland als „konservatives Musterländle“ mit unangefochten konservativer Prägung, und es blieb auch über die Jahrhundertwende hinaus ein Gemeinwesen mit starren sozialen Schranken, geistig intolerant und geprägt von einem unumstößlichen Sittenkodex. Eine höhere Schülerin der 1920er Jahre äußerte hierzu rückblickend: „Ich weiß nur, dass ich Minden als wahnsinnig einengend und beengend empfand und dachte, wenn ich das Abitur habe, das erste ist, raus aus Minden. Es ist fürchterlich, hier kann man nicht leben und nicht wohnen, hier erstickt man ja.“
Die Bevölkerung des Landkreises Minden-Ravensberg war also seit der Reformation vorwiegend protestantisch. Von den drei Bistümern Paderborn, Münster und Osnabrück umgeben, stellte das Kreisgebiet – nicht zuletzt im Gefühl der Bevölkerung – eine Art protestantischer Insel inmitten des westfälischen Katholizismus dar, deren Leben auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert daher in erheblichem Maße vom politischen Protestantismus bestimmt wurde. Hierbei trafen seit Mitte des 19. Jahrhunderts protestantische Orthodoxie und politischer Konservatismus zusammen, wobei – begleitet von einem oft ausgeprägten Antisemitismus - von einem „deutschen Gott“ und dem „auserwählten deutschen Volk“ die Rede war. Man empfand sich als christlich-protestantische, zugleich ausgeprägt nationale „deutsche“ Gemeinschaft.
Das Jahr 1918 bedeutete für Minden eine tiefe historische Zäsur, verschwand mit der Niederlage doch auch die preußische Monarchie, wobei gleichzeitig auch der Protestantismus erheblich an Boden verlor. Damit waren die beiden tragenden Säulen der politischen Identität der Stadt massiv beeinträchtigt. Entsprechend deutlich fiel die Ablehnung der Weimarer Demokratie durch die städtische Führungsschicht aus. Für eine von Tradition und einem unverrückbaren Weltbild geprägte Gesellschaft brachten Revolution, Inflation und schließlich Wirtschaftskrise eine tiefgreifende Verunsicherung mit sich.
Die wurde im Zuge der Krise dann auch sicht- und messbar. Zwischen 1930 und 1932 sank das Steuereinkommen der Stadt drastisch, während die Ausgaben insbesondere wegen der Sozialausgaben stark anstiegen. Hatte das Arbeitsamt Minden am 15. Oktober 1930 einschließlich „Krisenunterstützten“ 2.929 Erwerbslose in den Kreisen Minden und Lübbecke registriert, von denen 498 auf das Mindener Stadtgebiet entfielen, so waren im Januar 1932 bereits 13.760 Menschen in den beiden Kreisen und etwa 2.350 in Minden ohne Arbeit. Damit war auch die Kleinstadt hart von der Krise betroffen, doch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die zahlreichen Beamten und Militärs zwar Einschränkungen in Kauf nehmen mussten, jedoch – anders als Angehörige des Handwerker- und vor allem des Arbeitermilieus - von einer Entlassung verschont blieben. Außerdem verfügten viele von ihnen zudem über Nutzgärten, die die Versorgung sicherten oder zumindest spürbar unterstützten.
[1] Soweit nicht anders angemerkt folgt die Darstellung der Untersuchung von Dagmar Reese: Straff, aber nicht stramm herb, aber nicht derb. Zur Vergesellschaftung von Mädchen durch den Bund Deutscher Mädel im sozialkulturellen Vergleich zweier Milieus, Weinheim und Basel 1989, passim. Die Einwohnerzahlen und die konfessionelle Verteilung nach http://www.verwaltungsgeschichte.de/minden.html (14.02.2015).
zuletzt bearbeitet am: 19.04.2016