Die Geschichte von „Jugend“ folgt sicherlich allgemeinen Entwicklungen und „großen“ Linien. „Erfahrbar“ und nachvollziehbar wird sie aber zumeist erst am konkreten Beispiel eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region, das quasi mikroskopische Einblicke in Prozesse gewährt, die dem Betrachter beim Blick auf das reichsweite „große Ganze“ verborgen bleiben müssten. In den hier versammelten Beiträgen werden daher die jeweiligen Bedingungen vor Ort in den Mittelpunkt gerückt, um so die „Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“ für die jeweiligen Themenaspekte auszuloten.
Die Geschichte und Geschichten von „Jugend“ im Allgemeinen sowie jene von Jugendgruppen, Bünden und nicht zuletzt der Hitlerjugend im Besonderen folgten sicherlich allgemeinen Entwicklungen und „großen“ Linien. „Erfahrbar“ und nachvollziehbar werden sie aber zumeist erst am konkreten Beispiel, das sich auf die jeweilige Entwicklung in einem Dorf, einer Stadt oder einer Region konzentriert und so quasi mikroskopische Einblicke in Prozesse gewährt, die dem Betrachter beim – für ein Verständnis der Strukturen sicherlich unverzichtbaren - Blick auf das reichsweite „große Ganze“ versagt bleiben müssten.
In den einzelnen Beiträgen der hier präsentierten Rubrik „Orte“ gilt es also insbesondere die jeweiligen Bedingungen vor Ort in den Mittelpunkt zu rücken, um so die „Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“ für die jeweiligen Themenaspekte auszuloten.[1] Dies entspricht der Kritik an einer ursprünglich monolithischen Sichtweise des NS-Staates, die seit den 1970er Jahren immer lautstärker artikuliert wurde und die es erst ermöglichte, sozial- und alltagsgeschichtliche Phänomene „von unten“ in den Blick zu nehmen. Ergebnis waren zahlreiche und vielfältige Untersuchungen zur NS-Geschichte „vor Ort“, die die dortigen spezifischen Bedingungen zum Inhalt hatten und interessante, zuvor nicht zugängliche Einblicke ermöglichten. Solchen Lokal- und Regionalstudien liegen in aller Regel den hier präsentierten „Ortsgeschichten“ zugrunde.
Bei deren Rezeption sollten stets folgenden drei „Tendenzen“ mitgedacht werden, die Dietmar von Reeken und Malte Thießen im Rahmen einer „Bilanz von vier Jahrzehnten lokal- und regionalgeschichtlicher Forschungen zum Nationalsozialismus“ 2013 skizzierten:
Erstens kann der Blick vor Ort dazu dienen, generelle Fragestellungen – etwa jene nach der Durchsetzung der NS-Herrschaft, nach dem Verhältnis von NSDAP und Verwaltung, nach den Möglichkeiten von Verweigerung und Widerstand, aber etwa auch jene nach Existenz von konfessionellen Jugendgruppen und deren Auseinandersetzungen mit der örtlichen HJ oder den konkreten Bedingungen des Schulalltags – exemplarisch und entsprechend ausführlich in einem überschaubaren Raum zu analysierten.
Bei der zweiten hier zu betrachtenden Tendenz geht es weniger um die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen nationaler und lokaler bzw. regionaler Ebene, sondern um die Suche nach Unterschieden und damit nach einem Abweichen lokaler Entwicklungen von nationalen Trends sowie der Analyse von Faktoren, die solche Differenzen ermöglichten. Hierbei rücken naturgemäß lokale und regionale Besonderheiten und die jeweils wirksamen Milieus in den Mittelpunkt, indem nach „kleinräumigen Identitäten und Traditionen“ sowie nach „deren Auswirkung auf politische Orientierung und politisches Verhalten“ gefragt wird.
Drittens schließlich werden in Lokalstudien „kleine“ Räume als soziale Interaktionsfelder und als jeweils eigenständiger Denk- und Handlungsrahmen tatsächlich ernst genommen und dabei dann nach den Auswirkungen gefragt, „die sie als Bedingungs- und Kräftefeld für die Durchsetzung der NS-Herrschaft, die Aneignung von NS-Deutungsangeboten usw. hatten, aber auch umgekehrt, wie der Nationalsozialismus kleine Räume und ihre Spezifika beeinflusste“. Jürgen Reulecke etwa konstatiert, dass das Lokale und Regionale eben „nicht nur die Widerspiegelung der allgemeinen Prozesse auf der unteren Ebene“ darstelle, die man am konkreten Beispiel besser darstellen könne, sondern dass es zugleich auch eine „eigene Qualität“ besitze.[2] Außerdem erlaubt die Wahl eines „kleinen“ Raumes, „die Vielfalt der den historischen Prozess bestimmenden Faktoren miteinander zu kombinieren“.[3]
Die Konzentration auf solch „kleine“ Räume ermöglichen es dann, im Rahmen der Entwicklungen vor Ort die Bemühungen zur „Herstellung“ einer „Volksgemeinschaft“ auch im „Kleinen“ genauer zu analysieren. Solches Bestreben wiederum lässt sich auf zwei Ebenen untersuchen:
Zum einen ging es auch im „kleinen“ Alltag während der NS-Zeit stets und überall darum, die „großen“ Inszenierungen zu reproduzieren, indem die nationale Politik auch in Dörfern und Kleinstädten massenwirksam und außeralltäglich präsentiert wurde. Reichsparteitage, das Reichserntedankfest, die Feiern zum 1. Mai und alle um die Person Hitlers kreisenden Aktionen waren solche Anlässe, nationale Mythen und Symbole auch im kleinsten Dorf zu propagieren.
Sozusagen die andere Seite der gleichen Medaille stellt die zweite, für die Stabilisierung des NS-Regimes wohl weitaus wichtigere, Ebene dar, auf der sich die Verwirklichung einer „Volksgemeinschaft im Kleinen“ untersuchen lässt, nämlich die jeweilige konkrete Aufnahme solcher Inszenierungen und Verheißungen durch die Menschen in den „kleinen“ Räumen. Auch wenn das angesichts einer dünnen Quellengrundlage auf große methodische Schwierigkeiten stößt, bietet sich hier aber dennoch die Chance, einen direkten Bezug zu jenen Menschen herzustellen, „deren Mitmachen für das Funktionieren des NS-Staates von entscheidender Bedeutung war“. Im „sozialen Nahbereich“ von Dörfern und Städten werden Interaktion und Kommunikation von Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“ konkret fassbar. In diesen „Räumen“ werden aber nicht nur Zugehörigkeiten definiert, sondern auch Ausgrenzungen vollzogen und daher in alltäglichen, zunächst vielleicht harmlos anmutenden Begegnungen fassbar. Dabei mussten In- und Exklusion aus der „Volksgemeinschaft“ keinesfalls stets rassistische oder (partei-) politische Ursachen haben. Gerade mit Blick auf die Jugendlichen spielten vielfach andere, oftmals – aber nicht nur – konfessionell bestimmte Gründe eine ausschlaggebende Rolle.
Insgesamt – da ist Dietmar von Reeken und Malte Thießen vorbehaltlos zuzustimmen – ist ein Zugang zur Geschichte Der NS-Zeit über die Ereignisse „vor Ort“ unter anderem und vor allem deshalb so interessant, weil sich hier „Struktur- und Erfahrungsgeschichte im kleinen Raum fruchtbar miteinander verbinden“.
Das was hier eher theoretisch anmutend formuliert ist, soll in den nachfolgend präsentierten (und hoffentlich sowohl an Zahl wie inhaltlicher Dichte zunehmenden) Fallbeispielen mit „Leben“ gefüllt werden. Natürlich sind die jeweiligen Ortsgeschichten immer nur so umfassend und detailliert, wie entsprechende Vorarbeiten und zusätzliche Quellen verfügbar waren. Andererseits sind Ergänzungen und Korrekturen jederzeit ebenso willkommen wie Hinweise auf weitere Materialien. Sie werden dann – je nach verfügbarer redaktioneller „manpower“ – eingearbeitet und online gestellt.
[1] So die Kapitelüberschrift („Nationalsozialismus vor Ort – Potenziale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven“) in Dietmar von Reeken/Malte Thießen: „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis? Perspektiven und Potenziale neuer Forschungen vor Ort; in: dies. (Hgg.): „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u.a. 2013, S. 11-33. Danach, S. 13ff. auch das Folgende.
[2] Jürgen Reulecke: Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte; in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 202-208, hier SW. 203.
[3] So Michael Schneider: Nationalsozialismus und Region; in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 423-439, hier S. 435.
zuletzt bearbeitet am: 19.04.2016