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Lebenswelten

Jugendliche wuchsen nicht in „luftleeren“ Räumen auf, sondern in ihren jeweiligen Lebenswelten. Gerade zwischen 1918 und 1945 machte es oftmals einen erheblichen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt aufwuchs, im katholischen oder im Arbeitermilieu, ob in einer bürgerlichen Klein- oder in einer bäuerlichen Großfamilie. Wie veränderten sich damals die Familienstrukturen, wie die schulische Erziehung? Außerdem bestimmten neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zunehmend das jugendliche Leben und Streben.

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Lebenswelten

Gerade das Leben von Jugendlichen wurde in den in vielfacher Hinsicht unruhigen Jahren nach 1918 durch zahlreiche Einflüsse bestimmt. In einer Epoche, so formuliert es Markus Köster, „deren Signum der Widerspruch“ gewesen sei, sei auch die junge Generation in einer in vielfältiger Weise entsprechend widersprüchlichen Lebenswelt aufgewachsen. „Einerseits standen die Bedingungen ihrer Sozialisation tatsächlich unter dem Eindruck sozioökonomischer Dauerkrisen, generationeller Spannungen und vielfältiger Statusängste. Andererseits und zugleich aber eröffneten sich im Zuge beschleunigter Urbanisierung, Technisierung und kultureller Modernisierung neue Erfahrungs- und Handlungsspielräume, die die Lebenswelten der Heranwachsenden tiefgreifend veränderten.“[1]

„Lebenswelt“ ist dabei nach Definition von Detlev Peukert jener Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit zu verstehen, „der dem einzelnen in seinem alltäglichen Handeln ‚selbstverständlich‘ ist“. Dabei stellte die damalige „Lebenswelt“ von Jugendlichen auch die Schnittstelle zwischen einer subjektiven Aneignung der „Welt“ und der objektiven alltäglichen Lebenslage dar – zwei Zugangsweisen, die keinesfalls identisch ausfallen mussten. So mussten Jugendliche beispielsweise nicht unbedingt Bevölkerungs- und Arbeitslosenstatistiken lesen, um eine zunehmende Perspektivlosigkeit zu einer gemeinsamen lebensweltlichen Erfahrung werden zu lassen, aus der dann aber wieder sehr unterschiedliche persönliche oder politische Handlungsstrategien abgeleitet werden konnten.[2]

Beide Aspekte gilt es zum Verständnis der Situation von Kindern und Jugendlichen zwischen 1918 und 1945 gleichermaßen intensiv zu untersuchen und mittels des „Lebensweltenkonzepts“ die damalige Sozialstruktur mit den individuellen „Erfahrungshaushalten“ so sinn- wie spannungsvoll aufeinander zu beziehen. Bislang war eine „Beschreibung der objektiven Lebenslage, der demographischen und sozioökonomischen Strukturen und Prozesse“ unabdingbare Voraussetzung jeder historischen Jugendforschung, die aber – davon war nicht nur Peukert überzeugt - für sich genommen nicht hinreichend sein kann. „Vielmehr müssen die individuellen und kollektiven Erfahrungen und Verhaltensweisen, die Lebenspläne und Lebensläufe der Jugendlichen berücksichtigt werden.“ Das führt zum Verständnis von „Lebenswelt“ als einem „kollektiv ausgeformten, aber von jedem Individuum neu angeeigneten Komplex intellektueller und affektiver Wahrnehmungen und Handlungen“, die es Jugendlichen dann ermöglichen, ihre jeweils „subjektive Lebensführung in vorbewussten, vorgegebenen sozialen Kontexten zu orientieren“.

Durch eine gleichberechtigte Berücksichtigung beider Aspekte werden jene für die Jahrzehnte nach Ende des Ersten Weltkriegs sehr ausgeprägten „Phasenverschiebungen zwischen der rasanten strukturellen Veränderung zahlreicher Lebensbereiche einerseits und dem sehr viel langsameren Wandel der kollektiven Mentalitäten, Verhaltensmuster und Wertvorstellungen andererseits“ erst in einer Form herausgearbeitet, die ein Verstehen der damaligen Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Dabei gilt es die „Grenzen einer allein soziologisch verallgemeinernden Herangehensweise“ zu erkennen und sich einer vorschnellen Schematisierung zu entziehen. Natürlich prägten die damaligen krisengeschüttelten gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Lebensumstände ganzer Generationen und „gruppierten sie um kollektive Schicksalslinien“. Doch das allein reicht für eine Beurteilung der Gesamtsituation keinesfalls aus, weil es unberücksichtigt lässt, wie Einzelne ihre Situation sahen und versuchten, sie zu meistern.[3]

„Jede Generation wird in Bedingungen hineingeboren, für die sie nicht verantwortlich ist, die aber ihre Lebenslage und Lebenschancen weitgehend bestimmen.“[4] Das traf ganz besonders auf jene zu, die ihre Kindheit und Jugend in den krisengeschüttelten Jahren nach 1918 verlebten. Sie fanden eben keine günstigen Bedingungen mit entsprechend positiven Lebenschancen vor. Vielmehr wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer ganzen Generation mittels subjektiven Krisenerfahrungen „das Muttermal tiefster existentieller Unsicherheit und Zukunftsangst mit auf den Weg“ gegeben. Die zwischen 1900 und 1918 geborene Jugendgeneration der Weimarer Republik, so bringt es Detlev Peukert auf den Punkt, sei „schon durch ihre Geburtsumstände stigmatisiert“ gewesen.

Diese „Umstände“, d.h. die oft sehr unterschiedlichen „Lebenswelten“, in denen Kinder und Jugendliche heranwuchsen, die ihnen Orientierungen gaben und damit ihre künftige Sicht auf die Welt bestimmten, gilt es im Folgenden möglichst detailliert und plastisch vorzustellen und dabei bislang weitgehend vernachlässigte Aspekte gebührend zu berücksichtigen. So weist etwa Peukert darauf hin, dass das durch Forschung und Publizistik geprägte Bild der Jugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere von großstädtischen Lebensweisen bestimmt wurde und somit – gesamtgesellschaftlich betrachtet – höchst unvollständig und im Grunde falsch ist. Denn nahezu jeder dritte Jugendliche war in Weimarer Zeiten noch in der Agrarwirtschaft beschäftigt, während zugleich bereits der Dienstleitungssektor unter den jugendlichen Erwerbspersonen begann, gegenüber der Industriearbeit deutlich aufzuholen. „Noch war die agrarische Welt nicht ins Abseits gedrängt, als schon die ersten Züge der Dienstleistungsgesellschaft sich gegenüber der industriell-gewerblichen Sphäre nach vorne drängten.“[5]

Hierauf hat die sozialhistorische Forschung in den letzten Jahrzehnten zunehmend reagiert, um mittels zunehmend differenzierterer Untersuchungen ihrer „prominentesten Aufgabe“ nachzukommen, nämlich „die soziale Ordnung der Gesellschaft in ihren Veränderungen zu untersuchen und durchsichtig zu machen“.[6] Das gilt in mehrerlei Hinsicht: „Das Interesse für die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen wuchs in der Forschung ebenso wie die Sensibilität gegenüber dem realen Nebeneinander von Lebenswelten.“[7]

Die dank des gestiegenen Interesses bislang gewonnenen Erkenntnisse sollen im Folgenden mit Blick auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zwischen 1918 und 1945 skizziert werden, wobei sowohl die oftmals tiefgreifenden Veränderungen dieser Zeitspanne in ihren Auswirkungen auf diese Lebenswelten ebenso thematisiert werden, wie das Beharrungsvermögen tradierter Verhaltensweisen. Die Notwendigkeit eines solchen Ansatzes ergibt sich zwingend aus den Resultaten wissenschaftlichen Arbeitens. So stellt etwa Dieter Dove in dieser Hinsicht fest: „Bis in die 50er Jahre hinein waren die Menschen in weitaus stärkerem Maße als heute geprägt von in sich abgeschlossenen, übergreifenden Strukturen, in die sie hineingeboren waren. Sowohl die Wertorientierungen der Menschen als auch ihr soziales und politisches Verhalten wurden von diesen Strukturen stark beeinflusst.“[8] Zugleich gilt aber auch die Feststellung, dass gerade die nur 14 Jahre der Weimarer Republik „in vielfältiger Weise von Fortschritt und Beharrung, von ungewohnter Herausforderung und Verunsicherung, von Kontinuität, Krise und Wandel gekennzeichnet“ waren, „auf die überwiegend entlang konfessioneller sowie regionalspezifischer Selbstdefinitionen und Wahrnehmungsmuster reagiert“ worden sei.[9]

Fußnoten

[1] Köster, Jugend, S. 45f.

[2] Peukert, Jugend, S. 14. Vgl. dort, S. 14ff., auch zum Folgenden.

[3] Peukert, Jugend, S. 21

[4] Peukert, Jugend, S. 30. Dort auch das Folgende.

[5] Peukert, Jugend, S. 47ff. Mit Bezug auf Peukert urteilt auch Ursula Büttner: „Die Vielfalt der Lebensbedingungen, die Widersprüchlichkeit der Erfahrungen und die Uneinheitlichkeit der jugendlichen Verhaltensweisen müssten als konstituierend für die Geschichte der Jugend in den zwanziger Jahren akzeptiert werden. Über die Situation junger Menschen auf dem Land, in Preußen etwa ein Drittel der Jugendlichen, und über den weiblichen Teil der Jugend, mit Ausnahme der Arbeitermädchen, ist zudem noch immer wenig bekannt.“ (Büttner, Weimar, S. 258f.)

[6] Tenfelde, Milieus

[7] Zimmermann, Kleinstadt, S. 18f. Michael Schmalenstroer führte 2011 in seinem Blog hierzu etwa aus: „Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ gehört zu den Konzepten, die einen als Erstsemester am meisten überraschen. Es ist anfangs schwer vorzustellen, dass es einen wie auch immer gearteten Fortschritt gibt, dem man eine wirklich revolutionierende Wirkung attestieren kann – industrielle Revolution, elektrisches Licht, moderne Medizin und diverses andere – und dass es einen Haufen Leute gibt, die diesen einfach ignorieren und weiter so leben wie vorher. Der noch unbedarfte Erstsemester findet es einfach unglaublich, dass etwa die typischen Dorfstrukturen sich trotz rasanter Urbanisierung, industrieller Revolution und sozialen Entwicklungen so lange halten.“ (http://schmalenstroer.net/blog/2011/09/die-gleichzeitigkeit-des-ungleichzeitigen-17-der-deutschen-waren-noch-nicht-im-internet/ - zuletzt eingesehen am 29.2.2016)

[8] Tenfelde, Milieus

[9] Fasse, Geisteskämpfe, S. 237

[10] Wirsching, Nationalsozialismus, S. 25f.

[11] im Tagungsbericht: Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, 25.06.2015 – 27.06.2015 Hannover, in: H-Soz-Kult, 05.10.2015, (http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6193 - eingesehen am 8.4.2016) heißt es hierzu exemplarisch: „Aktuelle Studien sind bemüht, die historiografisch zementierte Dichotomie von Stadt und Land oder katholischer und protestantischer Region zunehmend aufzubrechen, um die Spannbreite individueller Aktionsmöglichkeiten, die soziale Handlungspraxis und Selbstmobilisation vor Ort in den Blick zu nehmen.“

[12] Rauh-Kühne, Sozialmilieu, S. 213f.

zuletzt bearbeitet am: 13.09.2016