Jugendliche wuchsen nicht in „luftleeren“ Räumen auf, sondern in ihren jeweiligen Lebenswelten. Gerade zwischen 1918 und 1945 machte es oftmals einen erheblichen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt aufwuchs, im katholischen oder im Arbeitermilieu, ob in einer bürgerlichen Klein- oder in einer bäuerlichen Großfamilie. Wie veränderten sich damals die Familienstrukturen, wie die schulische Erziehung? Außerdem bestimmten neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zunehmend das jugendliche Leben und Streben.
Die große Bedeutung von Vereinen steht für die historische Forschung außer Frage. Vereine gelten als Träger der gesellschaftlichen Selbstorganisation, bilden Kommunikationsräume und bündeln Interessen. Sie bieten Geselligkeit, tradieren Deutungsmuster und stiften Identität, weshalb die bürgerliche Vereinswelt die gesellschaftliche, politische und nationale Formierung stark prägte.[1] Wichtig für die Entstehung des Vereinswesens war nicht zuletzt die tiefreichende Verunsicherung weiter Bevölkerungsteile durch den schnell fortschreitenden Industrialisierungsprozess, die sich mit den Vereinen eine neue kollektive Gesellungsform schuf, der mithin eine Doppelfunktion zukam: Sie dienten sowohl der Interessenvertretung nach außen als auch der gemeinsamen Identitätsversicherung im Inneren.[2]
Trotz aller Bedeutung, die dem Vereinswesen beigemessen wird, sind - im Gegensatz für das 19. Jahrhundert - Analysen für das „kurze“ 20. Jahrhundert noch immer rar. Die bislang vorliegenden Studien widmeten sich vor allem der Vereinswelt des katholischen und sozialistischen Milieus, während der Entwicklung der Vereins- und Festkultur des bürgerlichen Lagers weniger Beachtung geschenkt wurde. Im Zeitalter der Extreme interessierten offenbar eher radikale Gruppen oder politische Bewegungen, weshalb die Forschung die (Sozial-) Geschichte von Schützenvereinen oder der Freiwilligen Feuerwehr als eher vernachlässigenswert einstufte, obwohl gerade sie die Lebenswelt von Millionen Menschen prägte.[3]
Wenn auch vieles dafür spricht, dass seit Ende des Ersten Weltkriegs die moderne Massenkultur mehr und mehr an die Stelle der traditionellen Vereinskultur trat, so ist für die Weimarer Jahre dennoch die weiterhin große Bedeutung von Vereinen festzuhalten. Gerade im öffentlichen Leben von Mittel- und Kleinstädten spielten sie zwischen 1919 und 1933 weiterhin unbestritten die zentrale Rolle. Sie organisierten und trugen die großen gesellschaftlichen Ereignisse der Orte und fühlten sich über ihr jeweiliges eigentliches Tätigkeitsfeld hinaus für die Unterhaltung, aber auch die Unterweisung und Bildung der Bürgerschaft zuständig, wobei ihre soziopolitische Vielfalt zugleich eine Pluralität des Angebots sicherte. Andererseits waren die sich ankündigende Veränderungen nicht mehr zu übersehen: Kino und Rundfunk ermöglichten weiten Bevölkerungsschichten nicht nur den Zugang zu den Produkten traditioneller Hochkultur, sondern veränderten diese und traten zunehmend zur traditionellen Vereinskultur in Konkurrenz.[4]
In den 1920er Jahren expandierten die bürgerlich-nationalen Vereine und Verbände zunächst weiter und tradierten so auf scheinbar unpolitische Weise politisch relevante Denkhaltungen. Auf dem platten Land wurden die Vereine zumeist sogar erst jetzt gegründet, wodurch dort eine Organisationsform der städtischen Moderne Einzug hielt. Während die auf Verwandtschaft und sozialem Stand beruhende dörfliche Gemeinschaft zusehends an Bindekraft verlor, stützten nun die Vereine die lokalen Machtstrukturen ab.[5] Vielerorts lag auch das gesellschaftliche Dorfleben seit Mitte der 1920er Jahre daher fast völlig in der Hand von Vereinen.[6]
Das konnte, musste aber offenbar nicht unbedingt auch politische Folgen nach sich ziehen. Für das Vereinsleben der Kleinstadt Weinheim während der Weimarer Republik machen Konrad Dussel und Matthias Frese eine Spaltung in konfessionelle, bürgerliche und proletarische, d. h. zur sozialistischen Arbeiterbewegung gehörende Vereine als charakteristisch aus. Vor allem die Gesangvereine hätten in der Stadt „eine ausgeprägte Dreiteilung“ aufgewiesen, während hingegen beim Sport und bei den Vereinen zur Bildung und Unterhaltung zumindest das religiöse Bekenntnis in den Hintergrund getreten sei. In Weinheim und andernorts seien Arbeiter daher mehrheitlich in bürgerlichen Vereinen organisiert gewesen, weshalb die Autoren der Feststellung Horst Überhorsts zustimmen, der mit Blick auf die vielfältigen Mitgliedschaften von Arbeitern in bürgerlichen Vereinen resümierte: „Beharrungsvermögen und freundschaftliche Bindungen erwiesen sich stärker als Klassenbewusstsein.“[7]
Frauen sahen sich von solchem Einfluss hingegen weitgehend ausgeschlossen, weil die bürgerliche Vereinswelt in hohem Maße männlich geprägt war und blieb. Durch die auch nach 1918 weiterhin enge Anlehnung an das Militärische, die – insbesondere, aber nicht nur - die Krieger-, Schützen- oder Feuerwehrvereine aufwiesen, wurden Frauen systematisch ausgegrenzt. Kirchliche Vereine dagegen, in denen Frauen sich zumindest religiös und karitativ engagieren konnten, spielten zumindest in den protestantischen Gegenden eine weitaus geringere Rolle als im katholischen Milieu.
Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass sowohl das 1919 zugestandene Wahlrecht als auch der Versailler Vertrag auch Frauenvereine mobilisieren und politisieren konnten. In Norddeutschland trat in dieser Hinsicht vor allem der konservative Evangelische Frauenbund mit Versammlungen und Schriften gegen das Versailler „Schanddiktat“ hervor und engagierte sich im Vorfeld der rechten Parteien. Insofern waren auch die Frauen zumindest partiell in die wehrhafte Geselligkeit der männlich geprägten Vereinswelt eingebunden und damit nicht nur ein Anhängsel der vereinsaktiven Männer. Eine reine „Männer-Öffentlichkeit“, so stellt zumindest Frank Bösch fest, sei die bürgerliche Vereinswelt nicht immer gewesen.[8]
Das Jahr 1933 mit seinen „Gleichschaltungen“ gerade auch in diesem Bereich sollte in der Geschichte des deutschen Vereinswesens dann einen tiefen Einschnitt markieren. „An Stelle der lebendigen Buntheit des freien Vereinswesens“, so berichtete 1939 ein kritischer Beobachtung in den im Ausland gedruckten „Deutschland-Berichten“ der SPD, sei nunmehr „die parteiamtlich geführte, staatlich geförderte Monopolorganisation“ getreten: Das gesellige Leben in all seinen Verästelungen war von der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF) monopolisiert worden.“[9]
[1] Vgl. Bösch, Geselligkeit, S. 151f.
[2] Vgl. Weichlein, Sozialmilieus, S. 58. Auch Dussel/Frese, Vereinskultur, S. 81, machen auf das daraus resultierende Missverhältnis der Untersuchungsschwerpunkte aufmerksam: „Während die Arbeiter- und die katholischen Vereine recht problemlos zu charakterisieren sind und sich nahtlos in jene Milieus, die sich um weltanschauliche Zentren gebildet hatten, einfügten und somit konstitutiver Teil der Milieus fügten, fehlt den übrigen Vereinen ein solcher Bezugspunkt. Sie bildeten stattdessen eine Art Restkategorie, in der sich alles sammelte, was nicht sozialistisch und nicht konfessionell war. Nimmt man hinzu, dass dieser Rest immer quantitativ deutlich dominierte, ist die Situation recht unbefriedigend. Ein Beispiel: Während die lokalen Arbeitersportvereine in Weinheim 1925 rund 800 Mitglieder zählten, gehörten den ungebundenen Sportvereinen mindestens 2.750 an.“
[3] Vgl. Bösch, Geselligkeit, S. 151f.
[4] Vgl. Dussel/Frese, Vereinskultur, S. 103f.
[5] Vgl. Bösch, Geselligkeit, S. 158
[6] Vgl. Dussel/Frese, Vereinskultur, S. 91. Max Weber hatte hierzu bereits 1910 in spöttisch-abwertendem Ton bemerkt: „Der heutige Mensch ist ja unzweifelhaft neben vielem anderen ein Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Maße. Es lässt sich aus einem beliebigen Adressbuch feststellen, dass beispielsweise in einzelnen Städten von 30.000 Einwohnern 300 verschiedene Vereine bestehen; also auf 100 Einwohner, d.h. auf 20 Familienväter, ein Verein.“ (Zitiert nach Röbke, Verein)
[7] Dussel/Frese, Vereinskultur, S. 74ff. Bösch, Geselligkeit, S. 152f., führt hingegen aus, dass ein vergleichsweise offenes soziales Selbstverständnis des Bürgertums mit sozialen und weltanschaulichen Trennlinien einher gegangen sei. „In den entsprechenden Vereinen kamen weiterhin vor allem Beamte, Kaufleute oder Handwerker zusammen, selten hingegen Arbeiter.“
[8] Vgl. Bösch, Geselligkeit, S. 166ff.
[9] Dussel/Frese, Vereinskultur, S. 59
zuletzt bearbeitet am: 19.04.2016